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Ich war nicht der sensibelste Mensch auf der Welt. Vielleicht hatte ich deshalb keine Freunde. Aber sogar ich hatte verstanden, dass ich zu Sophie nicht hätte sagen sollen, dass ich glaubte, dass Dave bald mit ihr Schluss machen würde. Damit hatte ich auch keinesfalls sagen wollen, dass sie nicht gut genug war (das absolute Gegenteil war der Fall, und hoffentlich würde sie genau das bald bemerken und sich vom Acker machen), aber die ersten Beziehungen hielten in den seltensten Fällen, in ihrem Alter schon gar nicht. Ich war immerhin einundzwanzig und kaum bereit für eine ernsthafte Beziehung.

Sonst hätte Liv mich bestimmt nicht verlassen.

Aber ich wollte einfach nicht über meine Zukunft in zehn Jahren nachdenken, und sie war konstant mit ihrem Kopf bei einem Haus, vier Kindern und einem Hund gewesen. Mein Gehirn hatte nur an den nächsten Tag denken können. Und dann an den nächsten. Und den nächsten.

Liv war kein Miststück gewesen.

Gut, sie war hin und wieder etwas zickig gewesen und hatte sich über Kleinscheiß aufgeregt, aber das war nicht schlimm gewesen. Sie hatte lediglich eine andere Sichtweise auf ihr Leben und ihre Zukunft gehabt als ich. Und seit fast zwei Monaten war ich kein Teil mehr davon. Es kam mir wie gestern vor, dass sie an meiner Haustüre gestanden, mich nach draußen gebeten und im Schneefall unsere Beziehung analysiert und beendet hatte. Fünf Jahre war sie ein fester Bestandteil meines Lebens gewesen und obwohl sie es nun nicht mehr war, konnte ich sie mir nicht wegdenken.

Auf dem gesamten Heimweg hingen meine Gedanken nur an Liv und ihren letzten Worten zu mir, bevor sie sich umgedreht und aus meiner Welt gelaufen war. Ich dachte daran, dass ich gar nicht wusste, wie es ihr ging. Ob sie ihre Pläne in die Tat umgesetzt und nach Wisconsin gezogen war. Ob sie dort glücklicher war. Ob sie jemand anderes hatte. Jemanden, der ihr geben konnte, wonach sie suchte.

Ob sie zur Lesbe konvertiert war.

Bei dem Gedanken musste ich auflachen, denn ich kannte keine homophobere Person auf dem Planeten.

Single sein ist besser, weil man Pizza im Bett essen und den Karton auf der anderen Seite ablegen kann.

Zuhause angekommen kämpfte ich mich die vier Stockwerke zu Fuß hoch, weil der Aufzug wieder mal kaputt war. Meine Wohnung lag ganz am Anfang des Flurs, Tür 43.

Gegenüber meines Apartments stand die alte Mrs. Graves und putzte ihre Türe, die in demselben hässlichen Knallrot strahlte, wie alle anderen Türen dieses Gebäudekomplexes, außer meiner. Das Erste was ich getan hatte, als ich eingezogen war, war die Türe mit Sophie pechschwarz zu lackieren. Und obwohl ich hier nun schon ein Weilchen wohnte, wusste ich immer noch nicht, warum Mrs. Graves täglich mindestens dreimal ihre Wohnungstüre mit einem Lappen abwischte.

Sie hatte eine Brille mit runden, dicken Gläsern auf ihrer Nase sitzen. Die grauen Haare waren in einem schrillen Pumucklrot getönt (vielleicht von der Türe inspiriert) und ihren wuchtigen Körper zwängte sie stets in komische, papageienbunte Kleider. Aber eigentlich war sie eine nette Frau, die mir gerne Mal Auflauf vorbei brachte. Sie hatte mir damit schon einige Abende gerettet, denn in meinem Kühlschrank war kaum etwas Essbares zu finden, außer Ketchup, saure Gürkchen und ein brocken Käse, der vielleicht pelziger war, als jedes Kaninchen.

„Hallo, Simon!" Sie lächelte mich an.

„Mrs. Graves", erwiderte ich nur und steckte meinen Schlüssel ins Schloss. Heute hatte ich keine Lust auf Gespräche über Aufläufe oder blauen Socken in Weißwäsche oder das Wetter oder die hübsche Nachbarin am Ende des Flurs, die erst vor kurzem hier eingezogen und auch Single war. Mrs. Graves schien zu bemerken, dass ich nicht sonderlich gesprächig war.

„Ist alles in Ordnung?"

„Ja, ich war nur eben bei meiner Familie. Bin müde."

„Ich kann dir später etwas von meinem frisch gemachten Nudelauflauf vorbeibringen, wenn du möchtest", bat sie an und ich zwang mir ein dankbares Lächeln auf die Lippen.

„Das wäre wunderbar."

„Sehr schön", nickte sie und ich verschwand in meiner Wohnung, sobald sie sich wieder ihrer Türe zugewandt hatte.

„Schräger Vogel", murmelte ich, als ich in meinem Apartment war. Ich ging sofort in die Küche und holte das Einzige aus dem Kühlschrank, das nicht das Verfallsdatum überschritten hatte oder völlig nutzlos war. Ein kühles Bier.

Den Stöpsel schlug ich an der Kante der Küchenablage ab und trank einen Schluck aus der Flasche, bevor ich einen wohligen Seufzer ausstieß. Ich fand, dass ich mir das nach dem heutigen Tag verdient hatte.

Als ich mich an den Küchentisch setzen wollte, musste ich an Rey denken und daran, was er heute gesagt hatte. Dass ich versuchen sollte, das Mädchen ausfindig zu machen, an das die Briefe gerichtet waren. Und plötzlich stand ich vor der offenen Schublade, in der all die Umschläge lagen und starrte auf die unheimliche Post hinunter. Nach kurzem Zögern griff ich hinein, nahm den Stapel heraus, setzte mich auf meine Couch und begann jeden der Briefe noch einmal zu lesen.

Psychopath traf es ziemlich gut, und obwohl mein Einfühlungsvermögen dem einer Ameise glich, versuchte ich mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, solche -an mich gerichteten- Briefe wöchentlich zu erhalten, aber wirklich Angst machte mir der Gedanke nicht. Vielleicht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, einen Brief zu erhalten, der tatsächlich für mich war und von meinen prallen Brüsten in einem weißen Sommerkleid schwärmte.

Dennoch konnte ich annehmen, dass es nicht sonderlich angenehm war, Dinge zu lesen wie: „Ich verzehre mich nach deinem süßen Nektar, deiner heißen Zunge in meinem Mund und deinem samtigen, nach Hibiskus duftendem Haar." Dabei musste selbst ich mich schütteln, und ich hatte viel krankeren Scheiß von ein paar High-School Bekanntschaften gehört.

Aber gleichzeitig war ich froh, diese Briefe anstelle der ursprünglichen Empfängerin zu erhalten. Es gab mir das Gefühl, etwas Gutes zu tun.

Auch, wenn das natürlich bloße Illusion war, denn ich tat genau gar nichts. Ich las die Briefe lediglich und hoffte, dass die Frau, die vor mir hier gewohnt hatte, weit, weit weggezogen und für diesen Irren nun unauffindbar war.

Gegen zehn klopfte Mrs. Graves an meine Türe und brachte mir eine ganze Box mit ihrem Auflauf vorbei. Sie schaffte es sogar, mich in ein dreißigminütiges Gespräch zu verwickeln, aus dem ich nicht herauskam.

Gegen zwölf Uhr verstaute ich die Briefe wieder neben der Türe, legte mich in mein Bett und aus irgendeinem Grund galt mein letzter Gedanke an diesem Tag nicht Liv, sondern der Person, von der in den Briefen die Rede war.

Der Stalker meiner VormieterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt