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„Du bist zu spät", meinte Malcom, als ich fünf Minuten nach zehn den Laden betrat, in dem es nach Fischen, Plastikspielzeugen und Nagetierstreu roch. Ich hätte schon vor einer Stunde hier sein können, aber ich hatte noch einen Zwischenstopp im Park eingelegt und mich vierzig Minuten lang auf eine Parkbank gesetzt und die Sonne genossen, bevor ich zur Arbeit gefahren war.

„Mein Auto hatte eine Panne", erwiderte ich unschuldig.

„Schon wieder?" Mal verschränkte die Arme vor der Brust und ich zuckte mit den Schultern.

„Ich würd mir ja eine neue Kiste kaufen, aber dafür reicht mein Gehalt nicht aus." Ich grinste ihn kurz an, bevor ich wieder auf meinen ausdruckslosen Blick zurückgriff und Malcom auf die Kisten neben dem Verkaufstresen deutete.

„Die gehören eingeschlichtet. An die Arbeit."

„Ai, ai, Captain." Ich salutierte, ignorierte Mal's genervten Blick und hob die schwere Kiste hoch, um sie in die Hundefutterabteilung zu tragen. So früh am Vormittag waren noch kaum Kunden hier.

Am Nachmittag wurde es etwas voller und gegen halb sechs war der Laden gefüllt mit Stammkundschaft, die hier regelmäßig Futter kaufte und Kindergruppen, die sich an den Babyhamstern und den Welpen ergötzten.

Alles in allem war auch dieser Arbeitstag mehr als eintönig und unspektakulär. Nur kurz vor Ladenschluss, als sie der größte Ansturm schon wieder gelegt und nur noch eine ältere Frau vor dem Katzenfutterregal stand, betrat die hübsche Single-Nachbarin, die am Ende meines Flurs wohnte, den Laden und brachte das Glöckchen über der Türe zum Klingeln. Sie schlenderte direkt zu dem Hundegehege mit den sechs kleinen Welpen, die längst bereit waren, abgeholt zu werden. Alle hatten große Kulleraugen und die meisten waren braun oder braunschwarz (der letzte aus dem Wurf hatte eine Fehlstellung an der Hüfte und konnte sein rechtes Hinterbein kaum bewegen, weshalb er hinkte, und von den meisten Kunden ignoriert wurde), nur einer der Welpen war pechschwarz. Und genau auf den kleinen Kerl schien sie es abgesehen zu haben, denn ihr Blick galt einzig und allein ihm.

Ich konnte Mrs. Graves Stimme hören, die mir sagte, dass es keine bessere Gelegenheit gab, als das blauhaarige Mädchen mit der süßen Stupsnase bei meiner Arbeit anzutreffen. (Ihre Haarfarbe erinnerte mich an irgendeine Meerjungfrau aus dem Barbiefilm, den meine Schwester, Sophie, immer gesehen hatte, als sie noch klein gewesen war.)

Doch bevor ich hinter dem Tresen hervortreten konnte, tauchte Mal zwischen den Regalen auf.

„Kann ich helfen?"

Das Mädchen sah auf und strich sich die langen Haare hinter die Ohren. „Ja... Naja, ich weiß nicht." Sie hatte ein hübsches Lächeln.

Mal deutete auf die Welpen, die sich aufgeregt vor dem Glas versammelt hatten und mit dem Schwanz wedelten. „Ich nehme an, Sie suchen einen Hund?"

„Ich weiß nur nicht, ob das nur ein impulsiver Kauf wird oder ob ich wirklich einen Vierbeiner will, mit dem ich bei Wind und Wetter raus muss." Grimmig verzog ich mich wieder ganz hinter den Tresen. „Egal, ob ich Fieber habe... Oder super viel Stress in der Arbeit..."

Malcom lachte. „So geht es einigen. Ein Hund ist eine große Verantwortung, aber auch ein wirklich wundervoller Freund fürs Leben."

„Den könnte ich wirklich gebrauchen", gestand das Mädchen. „Ich bin erst vor kurzem hier hergezogen und all meine Freunde und Familie leben in Oregon."

„Wow!" Malcom setzte einen interessierten Blick auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und was verschlägt Sie ans andere Ende des Kontinents, wenn ich fragen darf?"

Das Mädchen atmete schwer ein und lächelte schulterzuckend. „Das Leben... tatsächlich." Sie nickte. Dann wandte sie ihren Blick wieder den Welpen zu. „Ich lass mir diese Hundesache lieber noch ein oder zwei Wochen durch den Kopf gehen."

„Das ist bestimmt vernünftig. Aber lassen Sie sich nicht zu viel Zeit, sonst ist der Kleine vielleicht schon weg." Er deutete auf den schwarzen Welpen, denn Malcom hatte natürlich auch gemerkt, dass das Mädchen auf genau diesen Vierbeiner geierte.

Sie lachte. „Naja, zur Not habe ich immer noch Simba."

„Simba?" Malcom schmunzelte. „Katze?"

„Goldfisch."

„Kommt fast auf dasselbe raus."

Das Mädchen lachte. „Naja, vielleicht sehen wir uns ja nächste Woche wieder, wenn ich mich zu einem Hund verpflichten kann." Selten traf ich hier auf Menschen, die ihre Überlegung, ein Tier zu adoptieren, noch einmal überdenken wollten.

„Würde mich freuen", lächelte Malcom noch, bevor er ihr zunickte und wieder hinter den Regalen verschwand.

Mir war nicht entgangen, wie er sie angesehen hatte.

Ihr vermutlich auch nicht, denn sie sah nicht wie ein Mädchen aus, dass noch nie von einem Mann so angesehen worden war, aber sie schien sich auch nicht daran zu stören.

Das Mädchen ging durch die gegenüberliegenden Regalreihen und verschwand aus meinem Sichtfeld. Keine Minute später stand sie jedoch bei mir an der Kassa und hielt eine Dose Fischfutter in der Hand.

„Bei einem Fisch, der Simba heißt, wäre eine Katze, die Nemo heißt, sinnvoller als ein Hund, oder?", fragte ich, während ich das Etikett des Futters scannte.

„Oder ich benenne meinen Goldfisch um und taufe ihn Strolch." Ich sah auf. Das Mädchen musterte mich kühl. „Dann kann ich meinen Hund Nemo nennen. Aber vielleicht wäre eine tragbare, schalldichte Wand sinnvoller als ein Haustier, um nicht von neugierigen Leuten belauscht zu werden", erwiderte sie, während sie ihr Portemonnaie aus der Tasche fischte. Ich stutzte und wusste im ersten Augenblick nicht, was ich darauf erwidern sollte.

Die meisten Menschen waren nicht so schlagfertig und gaben auch nichts auf meine bissigen Bemerkungen, zumindest nicht, ohne erst einmal nachdenken zu müssen. In ihren Worten hatte nur kalte Abweisung gelegen, aber in ihren Augen spiegelte sich noch ein anderer Ausdruck, den ich noch nicht zuordnen konnte.

Mir fiel auf, dass ihre Augenbrauen braun waren, also war sie eine Brünette. Ich fragte mich, warum sie den Drang verspürte, ihre Haare blau zu färben.

„Oder Sie spielen ab jetzt stille Post und sind immer ganz, ganz leise, wenn Sie über etwas so intimes wie Ihren Goldfisch sprechen." Ich legte den Geldschein, den sie mir hinhielt, in die Geldkasse und suchte das Wechselgeld heraus. Als ich wieder hochsah bemerkte ich, dass das Mädchen mich immer noch ansah.

„Kennen wir uns?", fragte sie schließlich mit zusammengekniffenen Augen.

Ich nickte. „Ja, aus einem vergangenem Leben. Du warst der Frosch auf der einen Seerose. Ich war der Frosch auf der anderen Seerose." Jetzt wusste ich, was das Leuchten in ihren Augen zu bedeuten hatte.

„Du wolltest jeden Tag Sex, erinnerst du dich nicht?" Ich hielt ihr das Wechselgeld hin.

„Jetzt fängst du aber an zu lügen", lächelte das Mädchen und nahm das Geld entgegen.

In ihren Augen lag Belustigung. Aufregung. Vielleicht, weil sie noch nicht so oft auf Leute getroffen hatte, die immer neunmalkluge Antworten parat hatten und sich nicht scheuten, freche Klugscheißerbemerkungen von sich zu geben. Sie war mir in diesem Punkt auf jeden Fall ähnlich, und für unseresgleichen konnte die Gesellschaft von Leuten, die alles andere als schlagfertig waren, schnell langweilig werden. Solche Leute forderten einen nicht.

Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Bin heute Morgen gegen einen Laternenpfahl gelaufen. Gedächtnisverlust."

„Wie schade", erwiderte das Mädchen „Ich hätte zu gerne den Rest der Froschgeschichte gehört." Sie wandte sich mit einem letzten, leisen Lächeln ab. Ich wollte den Blick abwenden, damit das Mädchen in der Spiegelung der Glastüre nicht bemerken würde, das ich es anstarrte, doch noch bevor ich mich an meine guten Manieren erinnern konnte, drehte es sich um und sagte: „Simon Parker. Vierter Stock, Tür 43." Ich warf ihr einen mehr als verblüfften -beinahe misstrauischen- Blick zu. „Mrs. Graves redet gerne und viel über dich", lächelte das Mädchen, dessen Namen ich nicht kannte, bevor es aus dem Laden verschwand.

Der Stalker meiner VormieterinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt