Nur noch eine Stunde, bis ich in Duskwood bin, nur noch eine Stunde... In den ersten beiden Stunden hatte ich mich mit meinem bisher größten Problem beschäftigt: in einer Kleinstadt wie Duskwood war es üblich, dass jeder jeden kannte, wodurch sich ziemlich schnell herumsprechen würde, wenn eine gewisse Julia in der Stadt auftauchen würde. Außerdem kannten mich hier immer noch alle durch Lillys YouTubeVideo vor paar Tagen. Ich musste meine Anwesenheit sowohl wegen der Polizei als auch wegen Hannahs Entführer geheim halten. Und ich war noch nicht bereit, die anderen kennenzulernen.
Erstens würde Jake dadurch erfahren, dass ich mein Versprechen gebrochen hatte, zweitens bin ich eher ein schüchterner, introvertierter Mensch und komme in Gruppen nicht so gut klar. Natürlich ließe es sich nicht verhindern, wenn ich für längere Zeit hierbleiben sollte, aber zumindest in meiner ersten Woche hier wollte ich anonym bleiben. Aber ich denke, wenn ich ein bisschen vorsichtig bin, sollte ich das hinkriegen.
Ich habe mir letzte Nacht echt lange Gedanken darüber gemacht und bin zu dem Schluss gekommen, mich vorübergehend Alessia zu nennen. Das war ein Name, der überall geläufig war, daher sollte ich mit dem keine Probleme haben. Als Nachnamen hatte ich mir Schneider überlegt. Ich konnte wohl kaum verbergen, dass ich aus Deutschland kam, weshalb ich einen der häufigsten Nachnamen Deutschlands gewählt habe.
Die nächsten drei Stunden schlief ich. Ich hatte mir extra einen Wecker gestellt, sodass ich noch eine Stunde Zeit hatte, bevor ich in Duskwood ankommen sollte. Schließlich musste ich überlegen, wie ich weiter vorgehen wollte. Es war vielleicht etwas leichtsinnig, einfach so von heute auf morgen zu beschließen, nach Duskwood zu fahren, jedoch erschien es mir zu diesem Zeitpunkt einfach richtig. Doch dadurch brachte ich auch mich in ziemlich große Gefahr, denn nun würde ich bald in Duskwood sein, die Stadt, in der ein Mörder und Entführer frei herumlief, der nur darauf wartete, dass ich aus meinem Versteck kam.
"Nächster Halt: Duskwood" ertönte die monotone Frauenstimme, die die nächste Haltestelle ankündigte. Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof und ich stieg schließlich aus. Am Bahnhof waren nur wenige Leute zu sehen, offensichtlich reisten nicht viele hierher. Es war bewölkt, es schien hier wahrscheinlich nur selten die Sonne. Dennoch hatte ich mir Duskwood noch etwas beängstigender vorgestellt. Abgesehen von dem fast komplett verlassenen Bahnhof und dem schlechten Wetter war es sogar eine schöne Stadt, doch die gruseligen Legenden und die Geschehnisse der letzten Tage ließen sich nur schwer abschütteln.
Schließlich ging ich zu Fuß zu dem Motel, bei welchem ich mich angekündigt hatte. "Hallo, ich hatte mich heute Nacht bei Ihnen gemeldet, ein Zimmer für eine Person bitte." "Ah, wie war ihr Name noch gleich?" "Ähm, ich bin Alessia Schneider." "In Ordnung, das macht 450 €." Schnell suchte ich vier 100er und einen 50er und gab sie der Frau. Ich hätte zwar auch meine Kreditkarte benutzen können, allerdings kann man diese ziemlich schnell zurückverfolgen. Und dann wäre meine falsche Identität sofort aufgeflogen. Etwas verwirrt nahm sie das Geld, anscheinend zahlten hier nicht besonders viele bar. "So, Sie bekommen dann Zimmer 157." Mit diesen Worten ließ sie den Zimmerschlüssel in meine Hand fallen, ich bedankte mich schnell und ging hoch in mein Zimmer.
Das Zimmer befand sich im zweiten Stock, es hatte einen kleinen Balkon. Die Inneneinrichtung war etwas spärlich, aber was erwartet man auch von einem Motel. Es standen lediglich ein Bett, ein Schreibtisch, ein Stuhl, eine Kommode und ein Schrank im Zimmer. Erleichtert stellte ich fest, dass das Zimmer wenigstens über ein eigenes Bad verfügte, so müsste ich mich nicht allzu häufig unter den Gästen hier zeigen.
Ich hatte so lange herumgetrödelt, dass es schon 13 Uhr war, weshalb ich noch nicht auspackte und beschloss, ein bisschen in der Stadt zu bummeln und mich dabei nach einer Essgelegenheit umzusehen. Auf der Karte, die ich von Jake bekommen hatte, waren nämlich nicht besonders viele Restaurants markiert und diese waren zusätzlich noch ziemlich teuer. Ich hätte auch sicher etwas zu Essen im Motel bekommen können, aber ich wollte ja nicht so häufig mit den Motelgästen abhängen, ich wollte lieber alleine sein. Ich entschloss mich, in Richtung Stadtmitte zu laufen, im Zentrum der Stadt würde ich sicher eine kleine Imbissbude finden.
In dieser Seitenstraße befanden sich tatsächlich mehrere Restaurants, darunter auch eines mit chinesischen Essen. Ich musste an Jake denken, wie er mich fragte, ob ich chinesisches Essen mag. Mist, an Jake wollte ich eigentlich nicht denken, denn nun hatte ich wieder mit einem Mal Schuldgefühle. Wenn Jake das jemals herausfindet... ich wollte gar nicht wissen, wie er darauf reagieren würde. Vermutlich wäre er wütend, weil ich mich einfach so in Gefahr begebe, aber auch verletzt, weil ich sein Vertrauen missbraucht habe. Ich wusste genau, wie sich das anfühlte und konnte nur hoffen, dass er mir eines Tages verzeihen würde, obwohl ich es wahrscheinlich nicht verdient hätte.
Dann sorg einfach dafür, dass er es nie erfährt. Ich schüttelte den Kopf. Das Ganze vor meinen Freunden und meiner Familie zu verheimlichen, ist die eine Sache, das alles vor dem weltbesten Hacker zu verheimlichen eine andere. Er wusste bei unserem letzten Gespräch, dass etwas bei mir ganz und gar nicht stimmte, er wusste, dass ich etwas vor ihm verheimliche. Und ich wiederum wusste, dass er es wusste. Ich hoffte, er würde nicht auf die Idee kommen, mir nachzuspionieren und meinen Suchverlauf zu durchsuchen. Es würde dann sicher nicht lange dauern, bis er meinen Laptop hacken würde. Mir war klar, wie unwahrscheinlich es ist, dass er das nicht tun würde, er würde dahinter kommen.
Soll ich es ihm sagen? Wenn ich es ihm schreibe, ist er vielleicht nicht ganz so wütend, weil ich ihm immerhin die Wahrheit gesagt habe, aber andererseits... wie reagiere ich, wenn er ein Versprechen bricht? Würde es für mich einen Unterschied machen, ob er mir sagt, dass er es gebrochen hat oder ich es selber herausfinden würde? Es kam vermutlich auf die Situation an, aber ich wäre so oder so sehr enttäuscht, obwohl es für Jake wahrscheinlich normal ist, ständig Versprechen zu brechen. Allerdings vertraute er niemandem außer mir, wie schlimm wäre es denn für ihn, wenn die einzige Person, der er vertraut, ihn so hintergehen würde?
Am liebsten würde ich sofort meine Sachen packen und zurück nach Hause fahren, doch ich erinnerte mich wieder daran, warum ich das tat, weshalb ich hier in Duskwood war: ich wollte Jakes Halbschwester finden. Und wenn ich das schaffen würde, dürfte es Jake egal sein, ob ich mein Versprechen gebrochen habe oder nicht, denn dann hätten wir unser Ziel erreicht. Würden Jake und ich danach überhaupt noch Kontakt haben? Ich verdrängte meine Gedanken und ging zurück zum Motel, ich hatte keinen Hunger mehr.
Schließlich fing es an zu regnen und ich musste mich beeilen, damit ich halbwegs trocken im Motel ankommen würde. In meinen Gedanken versunken nahm ich nur am Rand war, dass mich jemand seit meiner Ankunft in Duskwood unauffällig verfolgte, zumindest wollte die Person unauffällig sein, was ihr nicht besonders gut gelang. Doch ich war zu erschöpft, um mir ernsthafte Sorgen darüber zu machen.
Am Motel angekommen ging ich sofort in mein Zimmer, nahm mir kurz Zeit für eine heiße Dusche und fing an, mein Gepäck in dem Zimmer unterzubringen. Dann legte ich mich auf mein Bett und wollte eigentlich überlegen, was ich als Nächstes tun wollte, doch der Schlafentzug machte es mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen und schließlich schlief ich ein.
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𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚈𝚘𝚞 𝙰𝚛𝚎 𝚃𝚑𝚎 𝙺𝚎𝚢
FanfictionJulia hält es nicht mehr aus. Nach einem verhängnisvollen Anruf lässt sie alles stehen und liegen und fährt mit dem nächsten Zug nach Duskwood, um vor Ort ermitteln zu können. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr Aufenthalt in Duskwo...