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Danach fühlte ich erstmal gar nichts mehr, ich war einfach nur irgendwo tief in der Dunkelheit gefangen und hätte nicht einmal entkommen können, wenn ich es gewollt hätte. Ich war anfangs komplett losgelöst von den Sorgen, die mich vor kurzen noch so eingenommen hatten, ich fühlte mich frei. Es war so, als ob sich meine Seele von meinem Körper befreit hatte und ihr eigenes Ding machte, meinen Körper mit den Schmerzen zurückließ. Diese Dunkelheit war nicht beängstigend, ganz im Gegenteil: Sie war sogar ziemlich beruhigend. Es war irgendwie genau so, wie wenn man schläft. Einfach nur ruhig und entspannend. Und ich hatte keine Schmerzen mehr, das war das Wichtigste.

Aber diese Ruhe ließ mir viel zu viel Zeit zum Denken. Ich wusste zwar gar nicht, dass man nach dem Tod noch denken konnte, aber woher sollte ich denn sowas wissen? Immerhin hatte ich bis jetzt noch keine Nahtoderfahrungen gemacht. Aber stellt das Gehirn nicht jegliche Aktivitäten ein, wenn man tot ist? Merkwürdig. 

Langsam plagte mich ein schlechtes Gewissen. Während ich es hier genoss, keine Schmerzen mehr zu haben, kämpfte Hannah vielleicht noch immer um ihr Leben. Hoffentlich kamen Jake und Thomas noch rechtzeitig und konnten sie retten. Wenigstens eine von uns beiden musste doch überleben. Ich hoffte so sehr, dass Hannah es schaffen würde. Jake, Lilly und Thomas würden sie brauchen. Und die anderen natürlich auch, aber vor allem eben die drei.

Erst verspätet fiel mir auf, dass ich etwas wichtiges nicht bedacht hatte. Jake hatte Thomas doch extra eingeweiht, damit er uns beide retten konnte. Und Thomas würde niemals mich retten, was bedeutet... Shit, ich musste jetzt sofort aufwachen, sofort! Ich hatte nicht bedacht, dass dann ausgerechnet Jake versuchen würde, mich zu retten. Wie war ich auch nur auf die dumme Idee gekommen, dass es für Jake in Ordnung wäre, wenn ich sterben würde! Natürlich würde es ihm etwas ausmachen! Und jetzt fuhr er gerade hierher und ich... ich war tot. Scheiße, einfach nur scheiße. Verzweifelt versuchte ich, mich zu bewegen, doch ich wusste nicht, wie das funktionieren sollte. Ich hatte keinen Plan, wo meine Arme oder Beine waren, ich konnte nicht einmal einatmen.

Okay, keine Panik kriegen, Julia. Es ist alles okay... Nein, es war gar nichts okay! Mein Anblick würde Jake so sehr verletzen... Ich meine, ich hatte mich schon beschissen genug gefühlt und dabei hatte ich die Schmerzen an meinem Arm und meiner Hand gar nicht gespürt, sondern nur die Wunde am Bauch. Oh Gott, und wie viel Blut in dem Zimmer sein würde! Aber Jake würde mich wahrscheinlich eh nicht finden. Entweder würde die Polizei ihn vorher aufhalten oder das Gebäude stürzt schon vorher ein. Toll, ich hoffte, er würde nicht auf die dumme Idee kommen, in der Hütte nach mir zu suchen, das käme Selbstmord gleich. Warum hatte er denn nicht einfach auf mich gehört? Dann wäre Hannah ganz sicher noch am Leben, ich wäre ja so oder so gestorben. Außer, Jake hätte sich für mich entschieden, doch das hätte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können. 

Die nächsten paar Sekunden konnte ich an gar nicht mehr denken, doch das störte mich nicht. Dann hatte ich wenigstens keine Schuldgefühle mehr. Plötzlich durchzuckten mehrere kleine Blitze meinen Körper. Verdammt, was war das? Was geschah gerade mit mir? Auf jeden Fall nichts Gutes, sonst würde es nicht so wehtun. Wenn ich mein Herz spüren könnte, würde es jetzt wahrscheinlich sehr schnell schlagen, doch das war nicht der Fall, denn ich konnte mich einfach nicht orientieren, ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper.  Dann spürte ich wieder gar nichts. Ist auch besser so. Die Schmerzen konnte ich zwar vielleicht nur eine Sekunde wahrnehmen, doch auch so konnte ich feststellen, dass es kaum noch qualvoller ging. 

Warte... wenn ich noch Schmerzen spüren konnte, müsste ich doch noch leben, oder? Aber wollte ich überhaupt mit solchen Schmerzen weiterleben? War es das wert? Grundsätzlich tendiere ich immer eher zu nein. Wenn jemand leidet, sollte man es nicht unnötig in die Länge ziehen. Aber in meinem Fall? Würde ich dieses ganze Leiden auf mich nehmen, um weiterleben zu können? Haha, als ob ich irgendeine Wahl hätte. 

Klar gibt es einige Fälle, in denen die Einstellung des Menschen über sein Leben oder seinen Tod bestimmt, aber ich war dazu gerade ganz eindeutig nicht in der Lage. Und selbst wenn ich es wäre, wüsste ich nicht, ob ich weiterkämpfen sollte oder nicht. Für was würde ich denn kämpfen? Ich hatte damals schon Suizidgedanken und hatte mir geschworen, mir nichts anzutun, solange meine Familie lebte, aber es war doch nicht verwerflich, wenn ich durch einen Angriff sterben würde, oder? 

Aber in letzter Zeit hatte sich mein Leben von Grund auf geändert. Ich war nicht mehr dieses depressive kleine Mädchen, ich war die Frau, die alles dafür getan hatte, um Hannah zu finden und sich ganz nebenbei auch noch verliebt hatte. Und zwar in Jake... wie zerstört wäre er wohl, wenn ich jetzt einfach so sterben würde? Ich meine, ich war eine der wenigen Personen, die ihm wirklich nahestanden, eine der wenigen Personen, die er an sich rangelassen hatte, denen er sich geöffnet hatte. 

Er hat mich zwar auch belogen, doch ich war kein Stückchen besser. Ich hatte ihm nicht erzählt, dass ich von Jennifers Unfall geträumt hatte, dass Hannah mit dabei gewesen war. Dass es hundertprozentig um diesen Unfall ging und sich jemand rächen wollte. Jake hätte mit diesen Indizienbeweisen sicher darauf schlussfolgern können, dass es sich um Michael Hanson handeln musste. Dann hätte er einfach dessen Handy hacken und seinen Standort herausfinden können. Dadurch wäre niemand in Gefahr gewesen. Naja, außer Hannah, aber sie war jede einzelne Sekunde in Gefahr, seitdem sie entführt wurde. 

Wieder stellte mein Gehirn jegliche Aktivitäten ein, wieder durchzuckten mich diese merkwürdigen Stromschläge und die unerträglichen Schmerzen. Bitte lass mich einfach nur sterben, bitte! Das war ja nicht mehr auszuhalten! Diese Schmerzen betäubten mich, machten es mir unmöglich, klare Gedanken zu fassen. Ich wusste nur, dass ich mir nichts Schlimmeres vorstellen konnte als diese Schmerzen. Naja, nicht ganz. Wenn ich daran dachte wie es Jake wohl gerade ging... Dieser Schmerz überlagerte die anderen Schmerzen. Diese Sehnsucht nach Jake, das Mitleid, meine Liebe... all das zerriss mich gerade innerlich. Wollte ich wirklich einfach so aufgeben? Ein letztes Mal spürte ich diese Blitze und noch schlimmere Schmerzen wie zuvor, danach fühlte ich gar nichts mehr.

𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚈𝚘𝚞 𝙰𝚛𝚎 𝚃𝚑𝚎 𝙺𝚎𝚢Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt