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Ich glaube, wir haben uns zuerst 73 Sekunden wortlos angestarrt. Zumindest habe ich das getan, ob er mich anstarrte, konnte ich nur erahnen. Plötzlich war die Erinnerung an die verhängnisvolle Nacht vor zehn Jahren viel zu lebendig, ständig blitzten Bilder dieser Nacht vor meinem geistigen Auge auf. Ich wollte weglaufen, doch ich konnte mich immer noch nicht bewegen. Unbewusst zitterte ich und starrte diese grausame Maske weiterhin entsetzt an. Nach diesen 73 Sekunden ergriff er endlich das Wort. 

"Hallo Julia, wie schön, dass du doch noch gekommen bist. Ich dachte schon, du findest nie zu mir", sagte der Mann ohne Gesicht mit verzerrter Stimme, die den Sarkasmus beinahe verschluckte. Okay, statt wie erstarrt hier herumzusitzen, sollte ich mir lieber etwas überlegen, um Hannah und mich hier raus zu bekommen. Ich richtete mich auf, um nicht so unterlegen zu wirken und sagte: "Ich würde ja gerne sagen, dass die Freude ganz meinerseits ist, aber ich ein ehrlicher Mensch, weshalb ich dich nicht anlügen werde." Unglaublicherweise klang meine Stimme bei diesen Worten fest und selbstbewusst, weshalb sich ein Grinsen auf mein Gesicht schlich, welches ich mir sofort vom Gesicht wischte. Der Typ vor mir schien verwirrt durch meine Stimmungsschwankung zu sein, fasste sich aber schnell wieder. "Frech wie eh und je", sagte er belustigt, doch ich merkte, wie unsicher er war. Das Zittern seiner Stimme verriet seine Nervosität. 

"Lass das Richy", sagte ich genervt und verdrehte die Augen. Ich hatte ihn schon längst an seinem Körperbau erkannt. Zumindest dachte ich, ihn daran erkannt zu haben. Außerdem war er ein miserabler Schauspieler. "Schick den Typen zu mir, der Hannah entführt hat und dich dazu genötigt hat, bei der ganzen Sache mitzumachen", forderte ich, woraufhin Richy die Maske abnahm und mich verwirrt ansah. "Wie... Wie hast du mich nur erkannt? Woher hast du es gewusst?", fragte Richy stotternd. "Ist das nicht offensichtlich?", sagte ich gelangweilt und betrachtete meine Fingernägel. 

Mittlerweile war Hannah aus ihrem Eck herausgekrochen und starrte Richy fassungslos an. "Wa-Warum?", brachte Hannah nur raus, bevor sie aufstand, auf Richy zueilte und ihm eine klatschte. Aua, das muss weggetan haben, so wütend und verletzt wie Hannah war. Richy hielt sich die Wange und blickte Hannah schmerzerfüllt an. "Ich wollte das doch gar nicht", sagte er abwehrend und sah zwischen Hannah und mir flehend hin und her. "Er hat mich dazu gezwungen, das zu machen, er hätte mich sonst umgebracht", sprudelten die Worte nur so aus seinem Mund hinaus. "Wer Richy? Wer hat dir gedroht?", fragte ich eindringlich und sah ihm fordernd an. "Michael Hanson." "Was? Aber der war doch tot!", platzte es aus mir heraus. Sofort schlug ich mir meine Hände auf den Mund. Wie konnte ich nur so dumm sein und das durch das halbe Haus schreien?! Hoffentlich hat das niemand gehört. 

"Nein, ist er nicht. Er hat nur seinen Tod vorgetäuscht", erklärte Richy, doch ich verstand immer noch nur Bahnhof. Michael Hanson war gar nicht tot?! "Für ein wenig Geld gibt es jede Menge Leute, die Falschaussagen machen. Der Gerichtsmediziner musste Michael nur so eine Spritze verabreichen, welche ihn sofort in einen Scheintod versetzte, und den Tatort vorbereiten. Danach wurde er natürlich in die Gerichtsmedizin gebracht, wo er erneut eine Spritze bekam, die ihn wieder zum Leben erweckte. Der Gerichtsmediziner behauptete später, dass die Leiche gestohlen wurde, was jedoch niemals an die Öffentlichkeit kam. Somit wurde Michael nicht mehr verdächtigt und war wieder frei. Allerdings wäre er von jedem auf der Straße erkannt worden, weshalb er immer eine Maske und eine Perücke trug, um seine Identität zu verschleiern. Er hat sich dann einen Job im Black Swan gesucht, welches sowieso hautsächlich jüngere Leute als Bedienung sucht. Und dadurch, dass er vorher mal die Bar geleitet hatte, war er im gegensatz zu den anderen Bewerbern sehr erfahren und wurde sofort eingestellt."

"Und was war das mit dem Bombenanschlag?", fragte ich vorwurfsvoll, ich musste wieder an Jessy denken. War sie mittlerweile aufgewacht? Wer weiß, vielleicht werde ich das nie erfahren. "Er hat mich dazu gezwungen, ihm zu helfen, ihr müsst mir glauben!", flehte Richy verzweifelt. "Ich wollte doch nie, dass einem von euch etwas passiert..." Er schluckte. "Wie geht es Jessy und Lilly? Die beiden hatte es ja am schlimmsten erwischt", fragte Richy ängstlich. Hannah zog scharf die Luft ein. "Was?! Lilly ist verletzt? Lebt sie noch? Und warum erfahre ich eigentlich erst jetzt, dass es einen Bombenanschlag gab?", überhäufte mich Hannah mit ihren Fragen. Na, das hatte Richy aber toll hingekriegt. "Lilly geht es mittlerweile wieder gut und Jessy liegt noch im Koma. Zumindest lag sie noch im Koma, als ich zuletzt nach ihr gesehen hatte", beantwortete ich Richys und Hannahs Fragen gleichzeitig. 

𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚈𝚘𝚞 𝙰𝚛𝚎 𝚃𝚑𝚎 𝙺𝚎𝚢Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt