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Michael kam auf uns zu und blieb direkt vor mir stehen. Genau genommen in der Blutpfütze, die Richy hinterlassen hatte. Mir wurde wieder schlecht, extrem schlecht. Richys Blut klebte immer noch an meinen Händen und nicht einmal einen halben Meter vor mir stand Michael Hanson, Richys Mörder. Wenn ich nicht vor Angst erstarrt gewesen wäre, hätte ich schon längst das Weite gesucht, so ging das aber schlecht. Ich starrte ihn einfach nur wortlos an, dann zog er mich an meinen Haaren hoch. Ich unterdrückte einen schmerzvollen Schrei und blieb so ruhig wie möglich, damit ich mir nicht noch mehr wehtat. 

Wahrscheinlich blutete meine Kopfhaut schon wieder und die Platzwunde machte das alles auch nicht besser, aber ich wusste, dass ich mich in diesen Moment nicht wehren sollte. Nicht, wenn Michael Hanson immer noch das blutüberströmte Messer in der Hand hielt und immer noch an meinen Haaren zog. Hannah starrte mich erschrocken an, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Dann wurde ich an die Wand geschleudert, wodurch sich meine Kopfschmerzen verstärkten, doch ich blieb tapfer auf meinen Füßen stehen. Immerhin hatte ich jetzt wenigstens genügend Abstand zu Michael Hanson. Dieser grinste immer noch, offensichtlich gefiel es ihm, Menschen leiden zu lassen. 

Dann sah er auf Richys Leichnam hinunter. "Was für eine Verschwendung. Hätte sich der Junge nicht gegen mich gewendet, würde er noch leben, aber stattdessen musstet ihr ja zu dritt diesen erbärmlichen Fluchtversuch starten. Eigentlich wollte ich Hannah ja heute freilassen, aber da ihr nicht abwarten konntet, habe ich eine bessere Idee." Michael Hanson machte eine Pause, Hannah und ich kamen ihm nicht ganz hinterher. Er hätte Hannah niemals laufen lassen, sie wusste, wo wir hier waren und hätte Michael sicher verraten. Aber was hatte er denn jetzt mit uns vor? Hannah fing an zu zittern und ich stellte mich zu ihr, um sie ein wenig zu beruhigen. 

"Ihr wisst ja beide, weshalb ihr hier seid." Wieder eine kurze Pause. "Ihr seid an dem Tod von Jennifer, meiner Tochter, schuld", sagte er bedeutungsvoll. "Sie ist aber gar nicht Ihre Tochter", platzte es aus mir heraus, was ich sofort bereute. Wie dumm war ich denn eigentlich?! Das brachte wirklich gar nichts. "Wie jetzt?", fragte Michael Hanson verwirrt und machte einen Schritt auf mich zu. "Sie sind nicht ihr Vater und Sie waren es auch nie", sagte ich ruhig. Diese Informationen musste Michael erstmal verarbeiten. "Was? Ich wusste doch von Anfang an, dass diese Schlampe mich betrogen hat!", rief er wutentbrannt und schmiss irgendeine Vase an die Wand, wo sie klirrend in tausende Teile zersprang. Hannahs Fingernägel krallten sich in meinen Arm, doch ich spürte es kaum. Das einzige, was ich wahrnahm, war die Angst, die ich vor Michael Hanson und seinen Wutausbrüchen hatte. Dieser Typ war wirklich unberechenbar.

Nach ein paar weiteren Sachen, die an die Wand geschleudert wurden und teilweise kaputtgingen, hatte sich Michael wieder beruhigt. Hoffte ich zumindest. Ich war sowieso total verwirrt, weil er mir einfach so geglaubt hatte. Mensch, war der leicht manipulierbar. Nur leider nicht so, wie es uns weiterhelfen könnte. "Um Iris werde ich mich später kümmern, jetzt seid ihr erstmal dran", beschloss Michael und kam uns wieder bedrohlich nahe. Ich zog nur fragend eine Augenbraue hoch und wartete, bis er weitersprach. "Ich habe mitbekommen, dass ihr beide zu einer gewissen Person eine ziemlich starke Verbindung habt und da dachte ich mir, wir machen alles noch ein bisschen spannender." Hannah krallte noch fester in meinen Arm, sodass er anfing zu bluten, ich hingegen blieb weiterhin ruhig. Ich verstand immer noch nicht, worauf er hinauswollte. Michael sah mir an, dass ich absolut nichts verstand. Ein Blick auf Hannah bestätigte mir, dass sie genauso wenig Ahnung von Michaels Plan hatte wie ich. 

"Das Prinzip ist ganz einfach. Eine von euch beiden lebt, die andere stirbt. Oder ihr sterbt beide, das kommt ganz darauf an, ob er sich an den Plan halten wird." Hannah fing wieder an zu weinen, ich strich ihr beruhigend über ihren Unterarm. Michael grinste überheben. "Jetzt bringe ich euch aber erstmal wieder nach oben. Ihr sollt euch ruhig den Kopf darüber zerbrechen, was ich damit meinen könnte. Ich werde euch einweihen, wenn ich ihn auch einweihe", meinte er und stellte sich hinter mich, um mir nur kurz danach das blutige Messer an den Hals zu halten. 

Ich spürte das klebrige Blut und das kalte Metall an meiner Haut, daher versuchte ich so ruhig wie möglich zu atmen. Mir war klar, was er da tat. Hannah war momentan eindeutig die Schwächere von uns beiden und diejenige, die weniger Dummheiten machen würde, wenn er mich bedroht. Und ich konnte uns nicht verteidigen, weil er mir ein verdammtes Messer an den Hals hielt. Nachdem er uns bewiesen hat, dass er nicht davor zurückschreckt, jemanden umzubringen. "Los, lauf", sagte er an Hannah gewandt, die zitternd die Treppen wieder hoch stolperte. Wenn ich laut Michael nicht schnell genug lief, verstärkte er den Druck des Messers an meiner Kehle, wodurch ich wieder etwas schneller lief. Dennoch war ich mir sicher, dass er mich zwischendurch leicht mit dem Messer geschnitten hatte. 

Hannah öffnete die Tür zu dem Raum, in dem wir vorher festgehalten wurden und ließ sich in der nächsten Ecke nieder. Michael nahm seine Hand mit dem Messer herunter und schubste mich in das Zimmer. Beinahe wäre ich gestolpert, aber ich konnte mich gerade so noch auf den Beinen halten und funkelte Michael wütend an, der einfach nur die Tür hinter sich zuzog und sie abschloss. Toll, jetzt waren wir wieder in diesem Raum eingesperrt und vor allem kein Stückchen weiter als er. Und uns lief die Zeit davon, das hatte uns Michael mehr als deutlich gemacht. "Julia, ist alles okay?", fragte Hannah zaghaft. "Ja, es ist alles okay. Ich hab zwar einen kleinen Kratzer am Hals, aber das ist nicht weiter schlimm. Dich brauche ich ja gar nicht erst fragen, wie es dir geht. Das ist ja ziemlich offensichtlich", sagte ich mit einem traurigen Lächeln. Hannah erwiderte es. 

"Mit wem hattest du in letzter Zeit Kontakt?", fragte Hannah nach einer Weile. Verwirrt sah ich sie an. "Warum fragst du?", entgegnete ich. "Naja, Michael Hanson hatte doch gesagt, dass wir beide zu einer Person eine starke Verbindung hätten, aber er hat damit ja wohl kaum Nick gemeint. Und jemand anderes fällt mir nicht ein", erklärte Hannah. "Achso, ich hatte eigentlich nur zu deinen Freunden Kontakt, also Cleo, Thomas, Dan, Jessy, Jake, Phil und Lilly, aber er konnte doch unmöglich eine dieser Personen meinen..." "Jake?", fragte Hannah ungläubig. "Ähm, ja... Aber er ist momentan nicht in der Nähe, Michael konnte also unmöglich ihn meinen", wiederholte ich. "Du hast ihn persönlich kennengelernt?", hakte Hannah nochmal nach. "Joa, also er hatte mich irgendwie gerettet und ich habe ihn dann erkannt, obwohl ich ihn zuvor noch nie gesehen hatte und dann haben wir uns kennengelernt", murmelte ich und sah auf den Boden. An dem Tag war ich Michael nur knapp entkommen. Und jetzt saß ich trotzdem hier, weil ich meinte, alles selber in die Hand nehmen zu müssen, was im Nachhinein einfach nur dumm war. 

"Jake ist mein Halbbruder", sagte Hannah plötzlich, ich sah sie überrascht an. Seit wann wusste sie es schon? "Du wusstest es schon, nicht wahr?", fragte sie. Als ich ihr keine Antwort gab, fuhr sie fort. "Das ist mir Antwort genug. Weißt du, ich hing damals echt lange am Laptop und habe die ganze Zeit Emails mit Jake ausgetauscht. Er hatte mich eines Tages einfach so angeschrieben und ich fand ihn sofort interessant. Er war nicht wie die anderen Menschen in meinem Leben. Ihn hatte es ehrlich interessiert, wie es mir ging, er hatte mir über deinen Halbbruder hinweggeholfen. Dabei habe ich mich in ihn verliebt. Wir haben uns jeden Tag geschrieben, mindestens einmal die Woche telefoniert, teilweise sogar per Videoanruf. Dabei hatte er natürlich immer darauf geachtet, dass ich ihn nicht sehen konnte, aber immerhin hatte er nach einiger Zeit auf den Stimmverzehrer verzichtet. Irgendwann brach dann der Kontakt zwischen uns ab und ich war am Boden zerstört. Mein Vater hatte das bemerkt und mich gefragt, mit wem genau ich geschrieben hatte. Und dann hatte er mir einiges über Jake erzählt, eben auch, dass er mein Halbbruder ist. Ich war dann natürlich erst ein wenig geschockt, doch ich konnte dann nachvollziehen, weshalb Jake den Kontakt abgebrochen hatte, und war auch irgendwie stolz darauf, so einen tollen großen Halbbruder zu haben. Dadurch konnte ich auch alles ein bisschen besser verarbeiten, auch wenn am Anfang meine ganze Welt zusammenbrach. Es spielt keine Rolle, wie weit Jake entfernt ist. Ich weiß ja nicht, in welcher Beziehung du zu ihm stehst, aber wenn du ihm etwas bedeutest, würde er auch um die halbe Welt reisen, um dich zu retten. Ich glaube wirklich, dass er diese Person ist, die Michael gemeint hat." 

Nach ihrer langen Ansprache musste ich schlucken, ich wusste ja selber schon, dass Jake so ein Mensch war, aber es nochmal aus Hannahs Mund zu hören... Shit, was, wenn Hannah recht hatte und es sich bei dieser Person wirklich um Jake handeln sollte? Immerhin hatte Michael auch schon Jake bedroht, um mir Angst zu machen, Michael wusste also durchaus, wie viel Jake mir bedeutete. Hannah sah mich an, dann fragte sie: "Liebst du ihn?" War das etwa so offensichtlich? "Ja", seufzte ich und ließ meinen Kopf hängen. Hannah seufzte ebenfalls und murmelte: "Dann wird er also entweder seine Schwester oder seine Geliebte verlieren."

𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚈𝚘𝚞 𝙰𝚛𝚎 𝚃𝚑𝚎 𝙺𝚎𝚢Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt