Im Flugzeug kreisten meine Gedanken die ganze Zeit nur um eine einzige Sache beziehungsweise wohl eher um eine einzige Person. Wie ist das nur passiert? Und vor allem wann? Ich wusste ja schon, dass ich mich in sie verliebt hatte, und ich könnte auch tausend Gründe aufzählen, warum ich mich in sie verknallt habe. Wegen ihres Lächelns, wegen der Art, wie sie mich ansieht, wie sie mich küsst und immer wieder aufs neue überrascht. Weil sie sich meine Launen nicht gefallen ließ und mich so akzeptierte, wie ich bin. Weil sie mir überall hin folgen würde. Und genau aus diesem Grund musste ich gehen, bis ich dafür gesorgt habe, dass ich und somit auch Julia in Sicherheit war. Aber auf die anderen beiden Fragen wusste ich keine Antworten und würde wahrscheinlich auch so schnell keine bekommen.
Seufzend lehnte ich mich noch mehr in den Sitz hinein. Ich vermisste Julia jetzt schon und das machte mir ehrlich gesagt ein bisschen Angst. Wenn ihr in meiner Abwesenheit irgendetwas passieren würde? Ich könnte mir das niemals verzeihen. Es reichte ja schon, dass ich Hannah nicht beschützen konnte, als sie entführt wurde. Weil ich sie nicht in Gefahr bringen wollte und deshalb den Kontakt abgebrochen hatte. Ich hätte ihre Email eher lesen sollen, dann hätte sie mir vielleicht sagen können, was los war. Denn sie wurde wahrscheinlich wegen dieser Sache entführt. Und diese Sache hing ganz eindeutig mit Jennifers Tod zusammen. Warum habe ich nur die Email erst so spät gelesen?
Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Julia ausgerechnet in den wenigen Tagen, in denen ich nicht da bin, etwas passiert, war doch relativ gering, oder? Obwohl... wenn ich daran dachte, wie viel Julia in dieser kurzen Zeit in Duskwood passiert ist... Ich war echt bescheuert. Wie war ich nur auf die blöde Idee gekommen, nach China zu reisen, während in Duskwood mindestens eine Person die ganze Zeit nur darauf wartete, dass ich Julia alleine lasse und sie somit ein leichtes Ziel wäre? Am liebsten wäre ich wieder sofort zu ihr zurückgegangen, aber das würde nichts an meiner Situation ändern und Julia wäre dann noch immer wegen mir in Gefahr. Noch dazu hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht von Julia verabschiedet hatte. Was sie wohl über mein Verschwinden dachte? Keine Ahnung, aber irgendetwas hatte sie sich bestimmt zusammengereimt.
Apropos Julia, ich wollte ja noch über sie recherchieren. Ich konnte Geheimnisse nämlich einfach nicht leiden. Und normalerweise hätte ich kein schlechtes Gefühl dabei, über einen Menschen zu recherchieren, wenn es sich dabei nicht um Julia handeln würde. Die meisten Menschen, über die ich Recherchen betreiben musste, kannte ich nicht, waren völlig Fremde. Julia war mir vor kurzem auch noch unbekannt gewesen, doch nun kannte ich sie besser. Viel besser. Und sie wäre ganz sicher nicht begeistert darüber, dass ich ihr Geheimnis auch so herausfinden würde, wenn sie das erfahren würde. Aber was blieb mir denn für eine andere Wahl, wenn sie nicht von sich selbst aus mit mir sprach? Du lässt ihr ja auch gar nicht die Möglichkeit. Du hast nur Angst davor, was sie vor dir verheimlicht. Das stimmt gar nicht! Okay, vielleicht war da ein bisschen was wahres dran, aber das war nicht der Hauptgrund. Ich wusste eben nicht, wie ich auf nicht so tolle Informationen reagieren sollte. Wer sagt dir, dass die Informationen so schlimm sind? Du hättest sie einfach fragen sollen. Na klar. Ich fuhr meinen Laptop hoch und startete ein Programm, welches ich programmiert hatte. Es war so ähnlich wie Google, nur dass man dort viel vertraulichere Informationen finden konnte. Ich müsste mir vorher nur Zugriff auf sämtliche Geräte von Julia und ihrer Familie verschaffen. Das wird ein Kinderspiel.
Nachdem ich mich in die Geräte von Julias Familie gehackt hatte, schloss ich meine Augen und stellte mir vor, wie ich Julia an eine Wand drücken, ihre Hände nach oben schieben und sie küssen würde. Wie sie stöhnen und versuchen würde, ihre Hände aus meinen zu befreien. Wie ich schließlich meinen Griff lockern, sie ihre Hände in meinen Haaren vergraben und sie verwuscheln würde. Wie sie mich wortlos beschwören würde, niemals damit aufzuhören, sie zu berühren und zu küssen. Wie sie ihre Beine um meine Hüfte schlingen und ich sie hochheben würde. Wie sie mir mit halbgeschlossenen Augen sagen würde, dass sie mich liebt. Was definitiv nicht geschehen würde. Das war reines Wunschdenken. Sie liebt mich nicht und ich würde sie nicht mehr bedrängen, sondern dafür sorgen, dass sie in Sicherheit ist und ich würde vielleicht mit ihr befreundet sein. Wem möchte ich hier eigentlich etwas vormachen? Ich würde es niemals schaffen, nur mit ihr befreundet zu sein, ich meine, ich war momentan mit niemandem befreundet. Außerdem war ich schon zu weit gegangen und hatte mich hineingesteigert. Ich sollte an sowas gar nicht erst denken. Ich. Hasse. Mein. Leben.
Warum konnte ich nicht einfach ein normales Leben führen? Warum hatte ich mich nur so sehr in den Mordfall meiner Mutter hineingesteigert? Warum hatte ich gedacht, dass es etwas bringen würde, wenn ich ihre Mörder finden würde? Es hat nämlich gar nichts gebracht. Ich wurde jetzt von der Regierung verfolgt, die Mörder meiner Mutter wurden noch immer nicht eingesperrt, weil ich mit den Beweisen schließlich wohl kaum zur Polizei rennen konnte, da ich diese illegal beschafft hatte und außerdem ein weltweitgesuchter Hacker war. Deshalb ging ich jetzt ja auch nach China. Wenn ich vor Ort nichts ändern konnte, dann müsste ich eben zu den Feinden der US - Regierung gehen. Auch wenn ich davon eigentlich nicht besonders viel hielt, aber so konnte es einfach nicht weitergehen.
Ich meine, wie viele Jahre waren jetzt schon seit ihrem Tod vergangen? Fast 14 Jahre. Knapp 14 Jahre, die ihre Mörder frei herumliefen und immer mehr Macht bekamen. Knapp 14 Jahre, in denen meine Mutter und ihre Familie, also ich, keine Gerechtigkeit bekommen hatten. Ihr Todestag rückte immer näher, ich hatte bereits in zwei Wochen Geburtstag, sie war drei Tage vorher ermordet worden. Ich war um diese Zeit immer ziemlich angespannt und gereizt, da mir jedes einzelne Jahr bewies, wie sehr ich versagt hatte. Aber nicht dieses Jahr. Dieses Jahr würde ich endlich für die Gerechtigkeit kämpfen und dafür sorgen, dass die Mörder meiner Mom für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen werden. Meine Probleme mit der Regierung würden sich dann größtenteils von alleine lösen und ich wäre ein freier Mann. Doch was würde ich denn mit meiner neu gewonnenen Freiheit machen? Würde ich dann nach Duskwood ziehen? Würde ich mehr Zeit mit Lilly und Hannah verbringen? Aber dann müsste ich früher oder später meinen Erzeuger kennenlernen. Und das wollte ich eigentlich nicht. Er hatte meine Mutter einfach so verlassen. Sie wusste nicht einmal, dass sie nur eine Affäre für ihn war. Außerdem wusste ich ja nicht einmal, ob Hannah überhaupt noch leben würde.
Das Piepen meines Laptops ließ mich aufschrecken und ich musste beinahe über mich selbst lachen. Anscheinend war ich mittlerweile genauso schreckhaft wie Julia. Ich öffnete wieder meine Augen und sah nach, was meine Suchmaschine gefunden hatte. Erstens: Julias Mom wurde offensichtlich auch in ihrer Kindheit vergewaltigt. Das erklärte auch, weshalb Julia sich selbst die Schuld gab. Wahrscheinlich wurde Julias Mutter durch Julias Vergewaltigung wieder an ihre erinnert. Julia gab sich ja auch an ihrer Vergewaltigung die Schuld, soweit war alles klar. Zweitens: Julia war mal eine ganze Weile wegen ihrer Vergewaltigung in Behandlung. Das war auch noch verständlich. Was ich nicht verstand war, weshalb sie mittlerweile wieder Depressionen hatte. Es hatte nichts mit Hannahs Verschwinden zu tun, das stand fest. Sie war vor etwa drei Jahren bei einem Psychologen gewesen, der ihr eine Therapie angeboten, welche sie jedoch abgelehnt hatte. Sie soll mittelschwere bis schwere Depressionen zu dem Zeitpunkt gehabt haben. Der Grund war unbekannt. Ernsthaft? Der Psychologe konnte feststellen, dass sie Depressionen hatte, aber nicht warum?! Doch das, was mich am meisten schockierte, war die Tatsache, dass Julia auch mehrere Termine vor 10 Jahren bei Dr. Ulric Barret hatte. Sie war vor 10 Jahren also tatsächlich in Duskwood gewesen.
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𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚈𝚘𝚞 𝙰𝚛𝚎 𝚃𝚑𝚎 𝙺𝚎𝚢
FanfictionJulia hält es nicht mehr aus. Nach einem verhängnisvollen Anruf lässt sie alles stehen und liegen und fährt mit dem nächsten Zug nach Duskwood, um vor Ort ermitteln zu können. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr Aufenthalt in Duskwo...