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War das gerade sein verdammter Ernst?! Zuerst finde ich die ganzen Beweise, bin so nett und übergebe sie an ihn und dann will er mir nicht einmal sagen, was die Polizei herausfinden würde?! Wie naiv konnte ich nur sein?! Egal, jetzt brachte es mir auch nichts mehr, mich aufzuregen. Ich würde auch auf einen anderen Weg an diese Informationen kommen. Irgendwie würde ich das schon schaffen. Gedankenverloren verließ ich die Lichtung. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich etwas wichtiges übersehen hätte, aber ich kam einfach nicht darauf, was es war. 

Als ich kurz unkonzentriert war, landeten meine Gedanken automatisch bei Jake. Ich konnte seine Taten einfach nicht nachvollziehen, er ist so kompliziert. Einerseits war er distanziert, kalt und dominant, andererseits konnte er auch liebevoll und süß sein. Schlag ihn dir aus den Kopf, er ist abgehauen. Du wirst ihn wahrscheinlich nie wieder sehen. Oh Mann, wie sehr hasste ich nur meine innere Stimme! Und das Schlimmste war ja, dass es wahrscheinlich sogar stimmte. Er hatte sich nicht nur ohne ein Wort davongeschlichen, nein, das war auch nur eineinhalb Tage nach unserer gemeinsamen Nacht gewesen. Verzweifelt lehnte ich meine Stirn und meinen Armen an eine Wand und schloss meine Augen. 

Sofort überfluteten mich die Erinnerungen an Jake: wie ich mit ihm zusammengestoßen war, wie er mich aus dem Wald gerettet hatte. Wie er mich vor Cooper gerettet hatte, wie er auf die Polizeiwache gekommen ist, um mich dort rauszuholen. Wie er mit mir am Morgen darauf rumgemacht hatte, wie er mich leidenschaftlich vor der Aurora geküsst hatte. Wie wir vorletzte Nacht sogar ein bisschen weiter gegangen waren. Obwohl an dem Tag die Bombe explodiert war und Jake mich abgewiesen hatte, war es die schönste Nacht in meinem Leben. Und trotzdem tat die Erinnerung daran so weh. Ich vermisste Jake einfach so unendlich. Jake war der Grund, weshalb ich mich nicht mehr so sehr hasste wie vorher, weil ich ihm glaubte, dass ich weder an meiner Vergewaltigung noch an den Depressionen meiner Mom schuld war. Er war der Mensch, der meinem Leben erst einen Sinn gegeben hatte.

Ich bemerkte erst, dass ich weinte, als ich schon den ganzen Boden vollgetropft hatte. Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und lief weiter in Richtung Motel. Es würde noch eine Weile dauern, bis ich mich beruhigen könnte und ich wollte definitiv vor Einbruch der Dunkelheit im Motel sein. Verwundert stellte ich fest, dass es laut dem Sonnenstand schon nach 17 Uhr sein müsste. Mit einem Blick auf meine Uhr überprüfte ich meine Annahme. 17:14 Uhr. Um ungefähr 18 Uhr würde die Sonne untergehen, also hatte ich noch eine dreiviertel Stunde Zeit, das sollte ich schaffen. Mittlerweile hatte ich aufgehört zu weinen. Stattdessen starrte ich ausdruckslos auf den Weg vor mir und dachte an gar nichts. Ich verbot mir jeden Gedanken, weil ich eh nur an Jake denken würde und ich nicht kein Interesse an einem Nervenzusammenbruch hatte. Am Anfang war ich traurig, wütend und verletzt gewesen, jetzt fühlte ich gar nichts mehr.

Ich überlegte gerade, ob ich mir vielleicht etwas zu essen holen sollte, obwohl ich gar keinen Appetit hatte, als mein Handy klingelte. Hektisch suchte ich in meiner Tasche nach meinem Handy, bis ich checkte, dass ich mein Handy in der Jackentasche habe. Sowas konnte aber auch nur ich vergessen. Innerlich schlug ich mir mit der Hand an meinen Kopf und fischte mein Handy aus meiner Jackentasche. Als ich auf den Bildschirm sah, stöhnte ich enttäuscht auf, weil ich nur von meiner kleinen, 15jährigen Schwester angerufen wurde. Mit wem hatte ich denn auch gerechnet? Ich nahm den Anruf an und wartete darauf, dass sie lospoltern würde, was auch eine Sekunde später geschah. 

"Spinnst du Julia?! Warum gehst du nicht in die Schule?!", schrie sie mich sofort an und ich zuckte zusammen. Ich hätte mein Handy vielleicht ein bisschen leiser machen sollen. "Woher weißt du das?", fragte ich sie etwas verwirrt. "Du Dummkopf, du fährst immer noch mit demselben Bus wie ich! Willst du, dass ich das Mama sage?" Shit, wie konnte ich das nur vergessen? Obwohl ich mittlerweile ausgezogen war, fuhr ich immer noch einen kurzen Teil der Strecke zur Schule mit dem Bus, mit dem meine kleine Schwester auch fuhr. Und gestern war der letzte Ferientag. Jetzt fängt wahrscheinlich gleich wieder die Erpressung an. 

"Hör mir zu, Lisa, ich bin momentan nicht daheim, es wäre also sehr hilfreich, wenn du daheim nicht Bescheid gibst..." "Wo bist du?", unterbrach sie mich. "Warte, ich starte nen Videoanruf", sagte sie und legte auf. Nur eine Sekunde später klingelte mein Handy wieder und ich ging sofort ran, ich befand mich nämlich gerade auf sehr dünnem Eis. Wenn ich nur einmal was falsches sagen oder tun würde, würde sie sofort zu meiner Mom und meinem Stiefvater rennen und mich verpetzen, was kein Problem wäre, wenn ich nicht von ihnen finanziell unterstützt werden würde. So sah es schon ganz anders aus. "Also, erzähl mir, wo du bist und warum!", forderte Lisa. Was sollte ich ihr denn dazu sagen? Es würde eine Ewigkeit dauern, bis ich ihr alles erklärt hätte. Und außerdem wollte ich es ihr nicht erklären. 

"Hast du etwa geheult?", fragte Lisa misstrauisch. "Nein", antwortete ich ihr, doch mein Gesicht verriet mich. Natürlich hatte sie gesehen, wie rot meine Augen waren und wie absolut beschissen ich generell aussah. "Natürlich hast du geheult, das sieht man dir an. Du siehst nämlich richtig beschissen aus. Okay, sonst siehst du auch immer kacke aus", meinte sie. Ich wusste, dass sie das nicht ernst meinte, aber ich verstand immer nicht, warum sie sowas überhaupt sagte, wenn sie es doch nicht so meinte. "Okay, dann habe ich eben geweint, ich will aber nicht darüber reden, Lieschen", sagte ich und hoffte, dass sie das Thema fallen lassen würde, aber es wurde nur noch schlimmer. "Du hast wegen einem Jungen geweint", sagte Lisa fassungslos und ich erstarrte. Wie war sie nur darauf gekommen?! 

"Oh mein Gott, bitte sag mir, dass du dich nicht entjungfern lassen hast!", rief Lisa vorwurfsvoll. "Du weißt, dass das nicht mehr die richtige Bezeichnung wäre und nein, natürlich nicht", beruhigte ich sie, wurde aber knallrot. "Gott sei Dank", sagte Lisa erleichtert. Ich ließ diese Aussage mal lieber unkommentiert. "Aber wo bist du denn jetzt?", fragte sie ungeduldig. "Ich bin in Duskwood, ich kann das dir jetzt nicht so auf die Schnelle erklären. Ich erkläre e dir, wenn ich wieder daheim bin, okay? Es ist momentan ziemlich stressig..." Lisa verdrehte die Augen. "Okay, aber wenn du es mir nicht erzählst, bist du so gut wie tot!", drohte sie mir. "Jaja, viel Spaß in der Schule", wünschte ich Lisa, welche nur noch aufstöhnte und auflegte. Wow, sie hat wirklich nur angerufen, weil ich nicht im Bus saß. Toll.

Ich ging wieder weiter, meine Stimmung war noch betrübter als zuvor. Ich kam mir so einsam vor, ich hatte momentan niemanden zum Reden. Jessy lag im Koma, mit Lilly habe ich mich zerstritten, Jake war nicht da. Und mit den anderen würde ich nicht über meine Probleme reden. Vor allem nicht mit Phil. Und das Telefonat mit meiner Schwester macht es auch nicht besser. Konnte sie sich eigentlich noch an Jennifer erinnern? Naja, sie war dann 5 Jahre oder jünger gewesen, die Wahrscheinlichkeit dafür war also ziemlich gering. Wusste sie überhaupt, dass wir eine Halbschwester hatten? Wahrscheinlich wusste sie genauso viel über Jennifer wie ich vor einer Woche gewusst habe, nämlich gar nichts. Als ich an einer Eisdiele vorbeiging, holte ich mir schnell einen Haselnussmilchshake und schlürfte ihn innerhalb weniger Sekunden leer, denn ich war echt durstig. Natürlich wurde ich dafür mit Hirnfrost bestraft, aber den nahm ich gerne in Kauf, dadurch wurde ich immerhin abgelenkt.

Plötzlich hielt mich jemand von hinten fest und drückte mir ein Tuch auf meinem Mund und meine Nase, von dem ein widerlich süßer Geruch ausging. Ich verstand sofort, dass es sich dabei wahrscheinlich um Chloroform handelte und hielt die Luft an, während ich um mich trat. Leider brachte das gar nichts, denn so strengte ich mich nur mehr an und verbrauchte mehr Sauerstoff.  Nach wenigen Sekunden musste ich jedoch gezwungenermaßen nach Luft schnappen und merkte, wie ich langsam aber sicher mein Bewusstsein verlor. Ich wollte noch gegen die Bewusstlosigkeit ankämpfen, doch es war schon zu spät. Meine Augenlider wurden zu schwer, um sie noch länger offen zu halten und ich versank in den Tiefen der Finsternis.

𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚈𝚘𝚞 𝙰𝚛𝚎 𝚃𝚑𝚎 𝙺𝚎𝚢Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt