~55~

686 30 9
                                    

Ich schlug die Augen auf und bemerkte, dass ich alleine in Jakes Bett lag. Wo war er? Ein ungutes Gefühl beschlich mich, welches sich bestätigte, als ich die ganze Wohnung nach ihm absuchte und ihn nicht finden konnte. Auch seine Computer waren weg, wie ich feststellen musste, als ich das Zimmer betrat, welches normalerweise abgeschlossen, dieses Mal aber geöffnet war. Ist er jetzt allen Ernstes abgehauen und hat mich alleine in seiner Wohnung zurückgelassen?! Das kann er doch nicht machen! Doch, das kann er, wie du siehst. Oh Mann, was hat er nur vor? Und vor allem, warum ist er abgehauen? Wie sollte ich das Lilly erklären? Ich griff nach meinem Handy und öffnete den Messenger. Wieso zum Teufel hat mich Jake blockiert?! Ich meine, war das sein Ernst?! Zuerst haut er einfach ab und blockiert mich dann auch noch, damit ich keinen Kontakt zu ihm aufnehmen kann?! Ich dachte, er wollte Hannah finden! Das klappt ja auch super, wenn er abhaut und jeglichen Kontakt abbricht. Wie sollte ich denn jetzt Hannah finden? 

Ich versuchte, die Enttäuschung, die in mir aufkam, zu unterdrücken. Er ist einfach so abgehauen, ohne etwas zu sagen. Und das schlimmste war ja, dass ich nicht einmal wusste, ob er wieder zurückkommen würde. Okay, was er kann, kann ich auch. Wenn er den Kontakt zu mir abbrechen will, soll's mir recht sein. Ich löschte kurzerhand Nymos von meinem Handy und Jakes Nummer. Wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, sollte er auch nicht mehr meine Aktivitäten am Handy überprüfen können. Ich komme auch ohne ihn klar.

Ich zog mir schnell andere Klamotten an, packte meine Sachen zusammen, da ich wohl wieder ins Motel ziehen müsste. Eigentlich wollte ich dort nicht hin, weil ich dadurch die ganze Zeit an Lilly erinnert werden würde, aber mir blieb keine andere Wahl. Als ich meine Sachen packte, fiel mein Blick auf einen von Jakes Hoodies und ich nahm ihn die Hand. Jakes Duft haftete an ihm, er hatte ihn anscheinend vergessen mitzunehmen. Ohne Nachzudenken roch ich noch einmal kurz an ihm, denn sein Geruch hatte irgendwie etwas tröstendes, bevor ich den Hoodie zu meinen anderen Sachen packte. 

Auf dem Weg zum Motel fühlte ich mich wieder mal beobachtet, aber ich dachte, dass ich mir das nur einbilden würde. Bei Jake hatte ich mich meistens sicher gefühlt, doch diese Sicherheit war jetzt mit ihm verschwunden. Meine Angst bewirkte, dass ich schneller als gewöhnlich lief und dementsprechend früher am Motel war. Ich suchte nach dem Zimmerschlüssel und schmiss meine Sachen auf den Boden, dann brach ich zusammen. Mich machte diese Unwissenheit echt verrückt, aber ich durfte jetzt nicht schwach sein, ich muss Hannah finden. Doch zuerst muss ich Lilly erzählen, dass Jake weg ist. Und ich hatte noch immer keine Ahnung, wie ich es ihr sagen sollte. Egal, ich werde es ihr einfach ohne Umschweife erzählen, dann hab ich's schnell hinter mir. Und für sie würde es wohl kaum einen Unterschied machen, wie ich es ihr sagen würde, so wie ich sie kenne.

Im Krankenhaus sah ich kurz nach Jessy, betrat das Zimmer aber nicht, weil Phil drinnen saß und ich mich nicht mit ihm streiten wollte. Anscheinend hatte sie immer noch nicht ihr Bewusstsein wiedererlangt und meine Sorge um sie wurde immer größer. Was, wenn sie wirklich nicht mehr aufwachen würde? Meine Kehle schnürte sich zu und eine einzelne Träne rollte mir die Wange hinunter, die ich sofort wegwischte. Nein, so durfte ich nicht denken. Jessy musste es einfach schaffen. Schnell ging ich weiter zu Lillys Zimmer, in dem Cleo und Dan saßen. 

Leise öffnete ich die Zimmertür und fragte: "Hey, ist hier auch noch Platz für mich?" "Aber klar doch, Kleine", antwortete Dan und ich trat ein. Ich hatte noch nicht einmal die Kraft dazu, Dan irgendwie zu kontern. Dan registrierte das und sah mich verwirrt an. Mein Blick fiel auf den Tisch, auf dem Kuchen stand, den Cleo anscheinend mitgebracht hatte. Er sah wirklich köstlich aus, doch ich hatte in letzter Zeit wirklich gar keinen Appetit, weshalb ich auch nicht fragte, ob ich vielleicht ein Stück haben könnte. Außerdem musste ich daran denken, was mir jetzt bevorstand. Hmm, wie sollte ich jetzt am besten anfangen? Cleo und Dan sollten eigentlich am besten nichts davon erfahren. Dan misstraute Jake sowieso schon und Cleo misstraute grundsätzlich jedem. 

Lilly bemerkte anscheinend, dass etwas los war, weshalb sie meinte: "Könntet ihr Julia und mich kurz alleine lassen?" Oh Mann, offensichtlicher hätte es echt nicht mehr sein können. "Ähm, okay. Ich wollte sowieso gleich zu meiner Mutter gehen", sagte Cleo schulterzuckend, aber ich merkte, dass sie misstrauisch war. Dan sah nur verständnislos zwischen Lilly und mir hin und her, bis er endlich aufstand. "Okay, ich sehe schon, dass ich mal wieder nicht eingeweiht werde", sagte er augenverdrehend. "Es ist nichts gegen dich Dan, aber das, was ich Lilly sagen will, geht wirklich nur sie etwas an. Es ist privat", versuchte ich ihn zu beruhigen. "Ja klar, es geht um Hackerman. Dann lasse ich euch eben alleine. Bis morgen Lilly", verabschiedete er sich höflicherweise von ihr, während er mich komplett ignorierte. 

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, seufzte ich und suchte nach Worten. Jetzt fiel es mir um einiges schwieriger, die richtigen Worte zu finden, welche ich mir schon in meinem Kopf zurechtgelegt hatte. Lilly sah mich erwartungsvoll an, doch ich zögerte immer noch. Verdammt, ist das schwer. "Was ist Julia? Rück mit der Sprache raus, du machst mich schon total nervös", sagte Lilly unruhig. Ich atmete tief durch und fing an zu sprechen. "Also... ich weiß nicht so recht, wie ich dir das jetzt sagen soll... Jake ist abgehauen. Es tut mir leid", sagte ich niedergeschlagen. Lilly sah mich geschockt an, dann öffnete sie den Mund und wollte etwas sagen, entschied sich dann aber dagegen und schloss wieder ihren Mund. Was wollte sie mir gerade sagen?!

"Wie...Warum?", fragte Lilly schließlich. "Ich weiß es nicht", seufzte ich. "Er hat mir nichts gesagt, hat noch nicht einmal einen Zettel oder so hinterlassen. Er hat mich sogar blockiert, sodass ich keinen Kontakt mehr zu ihn aufnehmen kann", fügte ich niedergeschlagen hinzu. Das ich im Gegenzug dazu Nymos gelöscht hatte, erzählte ich lieber nicht. Lilly würde von meiner Aktion genauso wenig halten wie von Jakes. "Ich verstehe das einfach nicht", sagte Lilly nach einer Weile. "Ich auch nicht", meinte ich seufzend. Ich wurde aus Jake einfach nicht schlau. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er wegen mir abgehauen ist, aber warum sollte er das tun? Aber was mich fast schon mehr beunruhigte war die Tatsache, dass Lilly etwas darüber wusste und es mir nicht verriet. Aber okay, wenn sie es mir nicht verraten wollte, sollte es mir egal sein. 

"Ich wollte dir das nur kurz sagen. Wenn du mich entschuldigen würdest, ich muss mir jetzt überlegen, wie ich weiter vorgehen möchte. Immerhin wollen wir ja immer noch Hannah finden", teilte ich Lilly mit, aber sie reagierte irgendwie kaum auf meine Worte. "Lilly?", fragte ich vorsichtig. Sie sah mich ausdruckslos an und mir dämmerte es. "Du glaubst, dass Hannah nicht mehr lebt", stellte ich bestürzt fest. Lillys Gesichtsausdruck sagte alles. "Wie sollen wir Hannah finden, wenn jeder davon ausgeht, dass sie nicht mehr lebt?! Ich dachte, ihr hättet etwas mehr Hoffnung", rief ich wütend und verzweifelt. Wenn sogar Hannahs Schwester die Hoffnung aufgegeben hat, wer hoffte dann überhaupt noch darauf, sie lebend zu finden?! "Julia, es ist total unwahrscheinlich, dass sie noch lebt. Wir werden sie niemals lebend finden", meinte Lilly traurig, doch ich schüttelte energisch den Kopf. 

"Wenn ihr nicht mehr daran glaubt, werden wir sie auch nicht finden! Ich werde jedenfalls nicht dumm rumstehen und zusehen, wie die Polizei genauso wenig wie ihr tut! Ich werde sie finden und mir ist es egal, ob mir jemand dabei hilft oder nicht. Ich werde nicht so schnell aufgeben!" Mich wunderte es selber, mit welcher Überzeugung ich das sagte, aber ich meinte es ernst. Lilly starrte mich nur an und ich drehte mich um, um aus ihrem Zimmer zu stürmen. Es machte mich wütend, dass noch nicht mal mehr Hannahs Familie daran glaubte, sie je wieder zu sehen. Und dann kam da so eine Fremde wie ich und kämpfte, während alle anderen schon aufgegeben hatten. Gott, ich bin echt bescheuert, ich kannte Hannah ja nicht einmal und trotzdem kämpfte ich für sie. 

Was sollte ich jetzt tun? Ich konnte einfach nicht glauben, dass Hannah nicht mehr leben sollte, sie muss einfach noch leben! Ist Jake vielleicht gegangen, weil auch er keine Hoffnung mehr hatte? Nein, ich glaubte nicht, dass Jake seine Schwester so schnell aufgeben würde. Aber warum ist er dann gegangen?! Nein Julia, nicht mehr an ihn denken. Du wolltest ihn aus deinen Gedanken verbannen, schon vergessen? Ich verließ das Motel und dachte nach. Irgendetwas musste ich doch einfach tun. Warte, ich war doch immer noch nicht bei der Lichtung! Vielleicht gibt es dort noch einige Beweise, die die Polizei übersehen hatte. Es war zwar unwahrscheinlich, aber einen Versuch war es wert. Ich würde Hannah finden, koste es, was es wolle.


𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚈𝚘𝚞 𝙰𝚛𝚎 𝚃𝚑𝚎 𝙺𝚎𝚢Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt