Ein Meter großer Hecht

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Warme Sonnenstrahlen, Straßenlärm und Vogelgezwitscher rissen mich aus dem Schlaf. Wie spät war es? Ich öffnete langsam die Augen und schaute auf mein Handy. 10:24 Uhr. Fuck!
Ich hatte wieder einmal verschlafen. Ich stürzte aus dem Bett, zog die erst beste Jeans und eine meiner vielen Blusen aus dem Kleiderschrank und lief in's Badezimmer.
„Na, schon wieder verschlafen?" tönte es amüsiert aus der Küche.
„Halt die Klappe, Toni!" rief ich meinem besten Freund zurück, während ich mir die Zähne putzte. Toni und ich hatten in unseren Ausbildungen eine WG zusammen gegründet und wohnten seither zusammen. Dieses WG-Leben hatte einige Vorteile. Zum Beispiel: man war nie alleine. Es hatte aber auch einige Nachteile. Beispiel: man war nie alleine.
Ich schaute mich im Spiegel an. Für Make-Up war heute definitiv keine Zeit mehr. Zum Glück war ich mit einer relativ guten Haut und einem dunklen Teint gesegnet. Leider auch mit ziemlich dunklen Augenringen, aber das hatte ich mir selbst zu zuschreiben. Man geht nicht an einem Dienstag Abend feiern, wenn man am nächsten Tag arbeiten muss. Wann ich das wohl lernen würde?
Ich bürstete noch schnell meine schulterlangen, braunen, lockigen Haare ehe ich zu Toni in die Küche ging.
„Du hättest mich ruhig wecken können." pampte ich ihn an und packte meine Arbeitstasche.
„Ich bin nicht deine Mutter, Schätzchen." lachte er. „Außerdem bin ich doch nicht lebensmüde. Ich weiß genau was für ein Biest du sein kannst, wenn du geweckt wirst."
„Ich werde noch ein viel größeres Biest sein, wenn ich gefeuert werde." entgegnete ich ihm.
„Hier, nimm den mit. Du brauchst ihn, so wie du aussiehst." sprach er und hielt mir eine Thermosflasche hin, von der ich annahm, dass sich Kaffee darin befand.
„Danke." seufzte ich und nahm meine Tasche. „Wir sehen uns heute Abend." rief ich auf dem Weg nach draußen.

Ich lief durch die grauen Straßen Kreuzbergs auf dem Weg zur Arbeit. Vorbei an Junkies, die sich auf Spielplätzen einen Schuss setzten und Pennern, die am Wegesrand mit einer Flasche Korn neben sich um Kleingeld bettelten. All das war nicht neu für mich. Ich war hier aufgewachsen und hatte diese Bilder jeden Tag vor mir. Trotzdem gab es Tage, an denen mich die Stadt depressiv stimmte. Wenn du morgens auf dem Weg zur Arbeit schon über 7 Menschen rüber steigen musst, weil sie einfach mitten auf dem Bürgersteig liegen, dann macht das was mit einem.
Ich wurde durch das aggressive vibrieren meines Handys aus meinen Gedanken gerissen. Herr Bolters stand auf dem Display. Mein Chef. Ich nahm den Anruf an.
„Herr Bolters, es tut mir leid. Ich bin sofort da." entschuldigte ich mich. „Frau Becker, das kann so nicht weiter gehen. Das ist das dritte Mal in Folge, dass sie zu spät sind." fuhr er mich an.
„Ich weiß, es wird nicht mehr vorkommen, versprochen!"
„Sehen sie zu, dass sie schnell her kommen. Wir haben heute eine Großveranstaltung, die organisiert werden muss." sprach er und legte auf.
Ich seufzte und wollte, ohne mich um zu sehen, auf die andere Straßenseite wechseln, als mich plötzlich ein Auto anhupte und mit quietschenden Reifen nur Zentimeter vor mir zum stehen kam. „Hey, pass doch auf!" rief ich erschrocken. „Samma?! DU bist doch einfach auf die Straße gelaufen!" rief es aus dem weißen Mercedes vor mir. „Das hier ist ne dreißiger Zone. Deine Kanackenkarre berechtigt dich nicht dazu, hier mit 80 langzubrettern!" schrie ich zurück und ging demonstrativ weiter. „Das nächste Mal bremse ich nicht!" hörte ich den Kerl im Auto rufen. Ohne mich umzudrehen zeigte ich ihm den Mittelfinger und er fuhr mit quietschenden Reifen davon. So ein Arschloch.

„Liv, da bist du ja endlich! Herr Bolters ist richtig sauer." begrüßte mich Sarah, meine Arbeitskollegin, mit besorgtem Blick. „Ich weiß. Wir haben schon telefoniert."
„Frau Becker, schön sie hier heute auch noch mal begrüßen zu dürfen." hörte ich meinen Chef hinter mir sarkastisch sagen und drehte mich um. „Ja, tut mir wirklich leid. Es war ein Notfall, ich konnte nicht eher kommen." entschuldigte ich mich ein zweites Mal.
„Kommen sie noch ein Mal zu spät, muss ich Ihnen leider eine fristlose Kündigung aussprechen. Gehe ich recht in der Annahme, dass dies' nicht ihr Wunsch ist?" ermahnte er mich.
„Ja, Sir." antwortete ich kleinlaut.
„Ich habe hier die Bühnenanweisungen für die Veranstaltung heute Abend. Es liegt in ihrer Verantwortung, dass der Künstler mit allem zufrieden ist. Ich zähle auf sie." er gab mir zwei Zettel in die Hand und verschwand in seinem Büro.
Ich atmete erleichtert aus. „Das war knapp." sprach Sarah und tätschelte mir die Schulter, während ich die Bühnenanweisungen in meiner Tasche verschwinden lies.
„Komm, lass uns zur Venue fahren. Wir haben viel zutun." sie nahm ihre Tasche und wir verließen die Büros.

„Chef hat nicht übertrieben als er meinte, dass es eine Großveranstaltung wird." ehrfürchtig schaute ich von der Bühne aus auf die ca. zwölftausend Sitzplätze vor mir. „Stell dir vor, du stehst hier vor all diesen Leuten und musst performen. Ciao. Ich würde sofort tot umkippen." lachte Sarah und ich nickte. „Okay, wie brauchen drei Scheinwerfer da, vier hier vorne und drei da hinten. Von oben auch nochmal zehn, so angeordnet wie hier unten." las ich von den Bühnenanweisungen, die mir mein Chef in die Hand drückte, laut ab. „Im Backstage brauchen wir Kaffee, Wasser, Aschenbecher und ein Bügeleisen."
„Ein Bügeleisen?" fragte Sarah noch einmal skeptisch nach.
„Ja, steht hier." ich zuckte mit den Schultern. „Was zur...?" murmelte ich vor mich hin.
„Was ist los?" fragte meine Kollegin neugierig.
„hier steht: Aquarium mit einem ein Meter großen Hecht."
Sarah lachte laut los.
„Das ist nicht lustig, man! Wo soll ich denn einen fucking Hecht her kriegen? Ich bin Veranstaltungskauffrau, keine Meeresbiologin. Was soll der Scheiß?" ärgerte ich mich. Die Worte meines Chefs hallten noch in meinem Kopf nach. Es liegt in ihrer Verantwortung, dass der Künstler mit allem zufrieden ist.
„Du kennst doch diese verrückten Medientypen und ihre Extrawünsche. Weißt du noch, als wir für Mariah Carey acht Topfpflanzen für ihren Backstagebereich besorgen mussten?" bei dem Gedanken daran musste sie grinsen.
„Sarah! Das hier ist ernst! Wenn ich das versaue, schmeißt mich Herr Bolters hochkant raus." ich fuhr mir gestresst durch die Haare und sie sah mich mitleidig an.
„Wessen Veranstaltung ist das hier überhaupt? Welcher dämliche Vollidiot will ein beschissenes Aquarium mit einem beschissenen Hecht darin?!"
„Da hat jemand den Rider komplett gelesen." sprach eine Stimme hinter mir und klatschte. Ich drehte mich um.
„Du?" fragte der blonde Typ, mit Armen wie Baumstämme, vor mir geschockt und hörte schlagartig auf zu klatschen.
„Hey, du bist das Arschloch, dass mich heute Morgen fast überfahren hat!" erkannte ich ihn. „Du bist mir vor's Auto gelaufen, man. Hat dir nie jemand beigebracht, nach rechts und links zu schauen, bevor man die Straße überquert?" provozierte er.
„Ist der blöde Hecht auf deinem Mist gewachsen?" wechselte ich das Thema. Mit so jemandem zu diskutieren würde sowieso zu nichts führen.
„Ja. Wir schreiben das immer auf den Rider um prüfen zu können, ob die Leute sich den auch wirklich durchlesen. Wenn eine Nachfrage zu dem Hecht kommt wissen wir, da wurden sich Gedanken gemacht." grinste er mir hochnäsig zu.
Erleichterung kam in mir auf. Ich müsste mich also nur irgendwie den Abend über gut mit diesem arroganten Typen stellen und mein Job wäre mir einen Tag länger sicher.
„Okay. Naja also, den Rest der Anweisungen kriegen wir wohl hin." antwortete ich ihm gespielt nett und schluckte meinen Stolz runter.
„Danke... Olivia?!" er blinzelte auf mein Namensschild an meiner Bluse.
„Liv, bitte." antwortete ich.
„Danke Olivia. Ich bin Felix." grinste er und zwinkerte mir zu. Arschloch.

Alles albern (Felix Lobrecht)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt