Verlangen

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Livs' Sicht

Vor meiner Tür drehte ich mich noch ein Mal zu Felix um. „Danke übrigens, dass du nicht sauer auf mich bist."
„Warum sollte ich sauer sein?" fragte er.
„Na, wegen deines Autos."
„Achso." es schien, als hätte er das Thema schon wieder völlig vergessen. „Nein, wie gesagt, es war nicht deine Schuld. Mach dir keinen Kopf."
„Ich hatte trotzdem Angst, dass du mir den Kopf abreißt." sprach ich belustigt.
„Quatsch." lachte er. „Ist nur ein Auto."
Ich beobachtete sein Lachen. Auf seinen Wangen zeichneten sich leichte Grübchen ab und seine stahlblauen Augen waren kaum mehr zu sehen. Erst jetzt bemerkte ich, dass auch ich die ganze Zeit wie blöd grinste. Dieses Lachen war ansteckend.
„Na gut, also..." sprach ich und wollte den Abend damit beenden.
„Ja. Ich werde dann auch mal auf mein Zimmer gehen." entgegnete er und ich nickte. Unsicher, wie ich mich nun von ihm verabschieden sollte, hielt ich ihm meine Faust zum Abschied hin und er fing erneut an zu lachen.
„Willst du mich grade mit einer Ghettofaust verabschieden?"
„Ich weiß nicht." lachte ich ebenfalls.
„Ach komm." sprach er und umarmte mich. „Ab morgen dann wieder förmlich mit Händedruck." witzelte er mir in's Ohr und eine Gänsehaut durchfuhr meinen Körper, als sein Atem meinen Hals berührte und sein Duft durch meine Nase zog.
„Danke für den coolen Abend." sagte er, als er von mir abließ und nur wenige Zentimeter unsere Gesichter von einander trennten. „Du bist wirklich in Ordnung." Er schaute mir unbeirrt in die Augen.
„D-Danke." stammelte ich und wunderte mich selber über meine Unfähigkeit, mich vernünftig auszudrücken. Noch mehr wunderte ich mich über den nächsten Satz, der über meine Lippen kam. „Willst du noch mit rein kommen?"
Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht.
„Hatten wir uns nicht grade verabschiedet?" fragte er und sein Blick fand den Weg zu meinen Lippen, dann wieder zurück in meine Augen.
Unfähig, eine passende Antwort darauf zu finden, schwieg ich. Sein Blick entfachte ein Kribbeln in mir und meine Lippen warteten darauf, endlich von seinen berührt zu werden.
Er kam mit seinen Lippen näher auf mich zu, nur um kurz vor den meinen an meinem Gesicht vorbei zu ziehen.
„Gute Nacht, Olivia." flüsterte er mir zu, drehte sich um und seine Zimmertür fiel hinter ihm in's Schloß.
Was war das? Perplex und wie gelähmt stand ich nun alleine im Flur. Es klingt arroganter als es gemeint ist, aber noch nie hatte ein Mann es abgeschlagen, die Nacht mit mir zu verbringen. Hatte ich die Zeichen falsch gedeutet? Wollte er vielleicht gar nicht mit mir schlafen? Waren die Anspielungen, die Blicke und all das nur ein Spiel?
Oder wollte er es nicht, weil er mein Chef war? War er einfach nur professionell? Fragen über Fragen gingen mir im Kopf herum.
Völlig verwirrt schloß ich die Tür meines Zimmers auf, ging hinein und setzte mich auf mein Bett. Lag es an mir? Hatte ich heute etwas falsches gesagt? Zu viel von mir Preis gegeben? Vielleicht war ich ihm zu kaputt. Zerstörte Familie, aggressiver Exfreund, selbstzerstörerische Züge. Wie würde er sagen? Ganz schöner Downer.
Ich zog mir meine Schuhe und Klamotten aus und kuschelte mich unter die weiche Bettdecke.
Dann sollte es wohl nicht sein. Warum würde ich das auch wollen? Ja, er war heute nett. Aber die restlichen Tage war er ein Arschloch gewesen. Wahrscheinlich war er plötzlich nur nett zu mir, um mich in's Bett zu kriegen.
Andererseits...
Er hätte mich heute in's Bett bekommen. Ohne Probleme. Aber er wollte es nicht.
Verzweifelt drückte ich mein Gesicht in's Kissen. Warum wollte er nicht?

Felix' Sicht

Die Tür fiel hinter mir in's Schloß und ich atmete tief aus. Es hatte mich all meine Selbstkontrolle gekostet, Olivias Angebot, mit ihr auf's Zimmer zu kommen, abzulehnen. Ihre Blicke machten mich verrückt. Aber der ganze Tag und unsere Gespräche heute waren zu wichtig, zu fragil, um all das mit hemmungslosem Sex zu übertünchen. Klingt bescheuert, war es wahrscheinlich auch.
Ich setzte mich nachdenklich auf's Bett.
Ich wollte sie küssen. Wirklich. Nicht, um sie danach in ihrem Zimmer wegzuknallen, was ich natürlich auch tun wollte, sondern weil sie es verdiente, geküsst zu werden.
Sie überraschte mich. Mit ihrer Vergangenheit, ihrer kaputten Familie, ihrer Stärke. Die große Klappe, die arroganten Blicke, alles war nur Fassade. Die ganze Zeit über sah ich sie als neues Spielzeug, mit dem ich unbedingt ein Mal spielen wollte um es danach zurück in die Ecke zu schmeißen. Aber das war falsch.
Sie war kein neues Spielzeug.
Sie war kaputt.
Sie war wie Micha. Mein Stoffbär. Auch er musste schon das ein oder andere Mal geflickt werden. Auch er trug Narben. Genau wie sie. Und so etwas wertvolles schmiss man nicht einfach weg.
Ich schaute zur Wand gegenüber von mir. Hinter dieser Wand war sie.
Was tat sie wohl grade? Lag sie schon im Bett? Dachte sie über die Situation nach, so wie ich? Oder war ich der Einzige von uns beiden, der sich Gedanken machte?
Bilder ihres nackten Körpers blitzten vor meinem geistigen Auge auf.
Sollte ich doch rüber gehen? Ich war kurz davor, meine Prinzipien wieder über Bord zu werfen.
Nein. Nicht heute.
Ich schüttelte den Kopf und unterdrückte das Verlangen, einfach zu klopfen, sie zu nehmen und ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Ich wollte uns beiden die Zeit geben, den heutigen Tag sacken zu lassen.
Sie läuft mir ja nicht weg. Und ich ihr auch nicht.

Alles albern (Felix Lobrecht)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt