Ich werde dich vermissen

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Zuhause versuchte ich, meinen halben Kleiderschrank in zwei mittelgroße Koffer zu pressen. Warum ich nicht zwei große Koffer mitnahm? Felix machte mir, nach meinem Gespräch mit Becci, unmissverständlich klar, dass ich nicht so viel Gepäck einpacken soll, weil der Platz in seinem Auto dafür nicht ausreichen würde. Ich würde also nicht nur 2 1/2 Monate durchgängig mit ihm auf Tour sein, sondern auch noch jede einzelne Fahrt über mit ihm und seinem Bruder in einem Auto festsitzen. Ich kann mir fast nichts schöneres vorstellen.
Ich hüpfte auf meinem Koffer auf und ab, während ich gleichzeitig versuchte, ihn zu schließen, als die Haustür auf ging und Toni zur Wohnung rein kam.
Neugierig schellte sein Kopf durch meine Tür. „Was treibst du da?" fragte er mich verwirrt.
„Ich packe Koffer." antwortete ich stumpf.
„Das sehe ich. Aber wofür?"
„Weißt du noch, wie du mir heute Morgen sagtest, ich würde Julian und Felix nie wieder sehen?"
„Ja?" erwartungsvoll sah er mich an.
„Ich bin ab Morgen 2 1/2 Monate auf Tour. Mit den beiden." antwortete ich und sah ihn entnervt an.
Sein rechter Mundwinkel fing an zu zucken und ich wusste, dass er sich nicht mehr lange zusammen reißen konnte.
„Lach ruhig." befreite ich ihn von seinem Leid und es sprudelte nur so aus ihm heraus. Ein, für mein Geschmack, viel zu langer Lachanfall, begleitet von Schenkelklopfern und kurzzeitiger Atemlosigkeit später, fragte er „Wie kommt das denn?"
„Tja, keine Ahnung. Felix hat es angeblich gefallen, wie ich seinen Auftritt gestern organisiert habe und es würde ihnen viel Arbeit abnehmen, wenn ich mich die ganze Tour über darum kümmern würde." ich zuckte mit den Schultern.
„Und du hast ‚Ja' gesagt?!" Verwirrung war in seinem Blick zu erkennen.
„Ich hatte nicht wirklich eine Wahl. Hätte ich nicht zugestimmt, wäre Herr Bolters auf die Barrikaden gegangen. Außerdem verdiene ich auf der Tour das Doppelte von dem, was ich jetzt verdiene. Kosten für Unterkunft und Verpflegung wird auch alles übernommen und das ist eine riesige Chance für mich, Erfahrungen zu sammeln."
„Über was für einer Art Erfahrung sprechen wir hier? Etwa mit dem kleinen Bruder?" Tonis Augenbrauen wippten auf und ab.
„Ich spreche von der Veranstaltungsbranche, Toni." verdrehte ich die Augen. Allerdings ist Julian auch ein netter Side effect des Ganzen.
„Heißt das, du verlässt mich ab morgen?" schaute er mich traurig an.
„Wir facetimen ganz viel, versprochen!" sprach ich.
„Das will ich auch hoffen. Ich möchte immer über den neuesten Gossip informiert werden."
„Natürlich. Mit wem sollte ich sonst darüber reden?" ich sah ihn versöhnlich an. „Kannst du mir hier mal mit den Koffern helfen?"

Der nächste Morgen

„Ich werde dich vermissen." Arm in Arm standen Toni und ich im Flur unserer Wohnung.
„Ich werde dich auch vermissen." sprach ich und musste mir eine Träne unterdrücken. In den letzten 10 Jahren waren wir noch nie länger als 2 Wochen voneinander getrennt. Das würde also für jeden von uns eine Challenge werden.
„Und vergiss nicht, es werden keine fremden Typen mit nach Hause geschleppt. Auch nicht, wenn ich nicht hier bin." ermahnte ich ihn. „Man weiß ja nie, was für einem Triebtäter man begegnet. Ich möchte nicht deine Überreste von der Wand kratzen, wenn ich wieder komme."
„Ja, Mama." entgegnete er mit einem Lachen. „Jetzt geh, du kommst sonst zu spät." er drückte mich mit meinen Koffern durch die Wohnungstür.
„Schreib mir, wenn etwas ist."
„Natürlich, du mir auch." ich gab ihm noch einen Kuss auf die Wange und schleppte meine Koffer das Treppenhaus hinunter.
Der Weg von meiner Wohnung aus zu Felix Büro war zum Glück nicht all zu weit. Wir wollten uns alle dort treffen und dann von da aus los fahren. Becci hatte erst vorgeschlagen, Felix könne mich ja an meiner Wohnung abholen, aber dieses Angebot lehnte ich dankend ab. Allein' aus dem Grund, weil ich nicht eine einzige Minute lang mit ihm alleine im Auto verbringen wollte.
Am Büro angekommen, schaute Felix skeptisch meine Koffer an. „Ich habe doch gesagt, pack nicht zu viel ein."
„Das ist nicht viel. Für fast 3 Monate brauche ich halt ein paar Klamotten." verteidigte ich mich.
„Weiber." nuschelte er und verstaute die Koffer in seinem Auto. „Können wir los?" fragte er und sah mich und Julian der, an seinem Handy tippend, neben ihm stand an. Ich nickte und wir stiegen in die weiße S-Klasse ein. Ich sah mich um. Beige Ledersitze, blaues Ambilight und ein riesiger Bildschirm, der größer war als mein iPad. Ich hätte es vor Felix niemals zugegeben, aber dieses Auto war ein wahr gewordener Traum.
Er startete den Motor und aus den Boxen tönte Drake.
Aus meiner Handtasche kramte ich den Tourplaner, den mir Becci gestern auf die Schnelle noch in die Hand gedrückt hatte. Unser erster Halt war Leipzig.
Ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe des Autos und schaute hinaus. Wir fuhren vorbei an den grauen Häuserblöcken Kreuzbergs. An meiner alten Grundschule und der weiterführenden Schule auf der ich war vorbei und an dem kleinen, ekligen Spielplatz mit kaputter Seilbahn, auf der ich mir mal den Kopf auf geschlagen habe, als ich noch ein Kind war.
Ich hatte Berlin, bis auf die zwei Male als ich auf Klassenfahrt war, noch nie verlassen. Meine Eltern hatten nicht viel Geld, Urlaub war also nicht drin und seit ich mein eigenes Geld verdiente, hatte ich einfach noch nie wirklich Zeit, mal raus aus der Stadt zu fahren. Das war ein weiterer Grund, weshalb ich überhaupt zugestimmt hatte, mit auf Tour zu kommen. Ich konnte es kaum abwarten, mehr von Deutschland zu sehen.
„Alles gut dahinten?" Julians Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Ja, alles bestens, danke." ich lächelte ihm durch den Seitenspiegel an und er zwinkerte mir zu.
Ich sah zu Felix rüber, welcher entspannt durch den ätzenden Berufsverkehr fuhr und immer mal wieder mit seinem Zeigefinger zum Beat des Lieds auf dem Lenkrad tippte.
Meine Anspannung legte sich langsam. So schlimm wie ich es mir vorgestellt hatte, schien die Autofahrt nicht zu werden. Ich lehnte meinen Kopf zurück ans Fenster und genoss die Aussicht, bis wir schließlich in Leipzig an kamen.

Alles albern (Felix Lobrecht)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt