Scarlett überlegte nicht, als sie ihm folgte. Ihre Schuhe polterten über den Boden und auch aus den anderen Räumen hörte man, wie die Wissenschaftler in Wallung gerieten. Sie versammelten sich um die wesentlichen Pulte, kontrollierten, hielten die unwesentlichen Mechanismen an.
Der letzte Dunst des Luftschiffs zog durch die geöffneten Fenster heraus; es wurde unheimlich still im Saal – so still, wie man die Grenze nur selten erlebte.
»Im Kern?«, fragte Kellen die Frau vor sich, die sie zum Kellergewölbe begleitete. Sie antwortete ihm, doch verstand Scarlett keines ihrer Worte. Alle Unterhaltungen waren durch die Masken vor ihrem Mund getilgt. Nichtsdestotrotz konnte sie sich die Frage selbst beantworten – wusste sie, welchen Weg sie ansteuerten. Zum Keller, dorthin, wo sich tatsächlich der Kern befand. Mit ihm das Herz der Grenze und Grundstock ihres Lebens.
Hinter mehreren Gängen und Türen versteckt lag der Zugang. Einige Wachmänner säumten die Wände und einer von ihnen schien für einen Moment zu überlegen, Scarlett anzusprechen. Er hatte die Augenbrauen gehoben, schmunzelte charmant.
Hier sah man sie selten. Diesen Weg vermied sie seit Jahren, war ihn umgangen und hatte sich vielmehr die oberirdischen Labore oder Werkstätte angesehen.
Nun, wo sie wieder vor ihm stand, fiel der jungen Formwandlerin auf, wieso sie ihre Neugierde nicht einmal hierher verleitet hatte: Der Kern war nichts Besonderes. Ein einfaches Rohr, in dessen Innerem der flüssige Stamm floss. Ein sauberer Klang, der alleine schon fast kostbar anmutete. Der Stamm polterte gegen das Metall und füllte die Kammer, in der sich nur wenige Menschen aufhielten. Und Scarlett stand zwischen ihnen, musste sich zurückhalten, nicht einen der Pulte zu aktivieren, um ablesen zu können, was exakt vor sich ging. Sie stand wie ein Fremder zwischen den anderen, bemüht, aus den Fragmenten von Gesprächen Informationen zu gewinnen. Sie könnte helfen, wenn sie erfahren würde, wo das Problem lag.
Doch niemand dieser Angestellten würde sie blind einweihen. Die, die hier arbeiteten, waren nicht mehr die selben Gesichter, die sie damals begrüßt hatten, als sie hier gearbeitet hatte. Die meisten von ihnen hatten den Dienst nicht so lange überlebt wie sie, waren versetzt worden oder freiwillig gegangen.
Der einzige, der sich noch ihrer Fähigkeiten bewusst war, war Kellen. Und so stellte sie sich ungefragt neben ihn.»Ich weiß nicht, wo das Problem liegt«, raunte er ihr zu, fuhr sich durch die gegelten Haare, wieder und wieder. »Siehst du, wie die Zahlen sich verändern? Das zeigt enorme Unregelmäßigkeiten an.«
»Ich weiß. Ich habe das alles gelernt.«
Neben ihm drehte sich das Rad am Holz, die Ziffern veränderten sich stetig. Die hohen Zahlen schwankten, die Energie fiel bis in den zweistelligen Bereich. Die Lichter der dunklen Straße würden allmählich in die Notversorgung geschaltet werden. »Was auch immer das Problem ist«, begann eine Frau aus der anderen Ecke. »Wir müssen es bis zum Eintreffen der Nacht gelöst haben, oder zumindest Kerzen austeilen.«
»Wie viele Kerzen wollen wir denn aufstellen? Es gibt Gründe, wieso wir keine verdammten Kerzen mehr verwendet haben!«, brüllte jemand.
»Genug!«, zischte Kellen. Er lehnte den Kopf zurück, betrachtete Scarlett. »Kannst du mal mit den anderen untersuchen, ob das Problem am Mechanismus liegt?«
»Was? Ich soll da runter? Bist du wahnsinnig? Ich geh da nicht zurück. Ich kann da nicht einfach alleine wieder hin«
»Ich weiß, aber-« Er betrachtete sie von der Seite, presste die Lippen erst aufeinander, aber stieß dann hervor, was er wohl anfangs nicht aussprechen wollte: »Entweder du gehst da jetzt runter, oder du gehst nachhause. Wir können hier jetzt niemanden gebrauchen, der einfach nur wie Deko herumsteht.«
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Blut eines Cruors
Fantasy[Wattys 2022 Winner] »Wir sind Kreaturen des Lichtes und doch steckt in uns eine solche Dunkelheit. Willst du wirklich erfahren, was dann erst die Schatten kreieren?« Seitdem die Cruoren die Macht an sich gerissen haben, hat sich die kleine Hafensta...