Dolunay faltete die Hände, lehnte sich über dem Tisch nach vorne, um den Mann anzusehen.
Die Luft schien auf ihrer Haut zu kribbeln; jeder Atemzug brannte und doch war dort dieser taube Druck, der ihren Kopf gänzlich einnahm.
Nun würde er ihr mitteilen, dass er ihre Dienste nicht mehr wünschte.
Nun würde er ihr mitteilen, dass sie zu oft versagt hatte.Doch Chase Miene veränderte sich — hin zu einem verständnisvollen, lockeren Ausdruck. Er schloss die Lider, überschlug die Beine. »Ich nehme an, dass dir diese Situation nicht zu nah geht?«
»Das hängt davon ab. Nein, ich störe mich nicht daran, dass ich ihm das Gedächtnis gelöscht habe, aber mich... mich bedrückt, dass ich versagt habe. Wieder einmal.«
»Dolunay, nicht alles im Leben dreht sich darum, wie viel Erfolg man hat.« Er blickte auf; doch seine Augen fielen in Schatten. »Du hast deine Erfahrung gemacht und es war klar- Naja, mir war es klar, dass es nicht gleich funktionieren würde. Nach ein Paar Problemen habt ihr's doch aber gemeistert.«
»Und warum willst du dann alleine mit mir reden, hm?« Sie nahm die Pfeife entgegen, die er ihr anbot, zog einmal daran. Das Aroma brannte ihn ihrem Hals, der Qualm schien ihre Lunge zu verpesten. Nichtsdestotrotz lehnte sie nie ab, wenn er ihr das Angebot unterbreitete — inhalierte es, entgegen des Schmerzes.
»Weil ich einen Auftrag für dich habe. Du sollst dieses Gedankenlöschen-Ding alleine durchführen.«
Sie ließ sie Pfeife sinken. »Alleine? Nachdem ich schon versagt habe? Komplett alleine?«
»Leider ja. Ich hab diesen Befehl schon lange genug vor mich hergeschoben. Ich hätte tatsächlich eigentlich lieber gehabt, dass du vorher mehr Übung bekommst. Umso dankbarer bin ich, dass du das Gedankenlöschen durchgezogen hast.«
»Aber warum alleine?«, hauchte sie, ehe sie einen weiteren Zug nahm — diesmal mehr zur Beruhigung.
»Es ist... Kompliziert. Der Auftrag bezieht sich auf einen Haushalt, der so geschützt ist, dass da niemand einfach so reinkommt« Er nahm die Pfeife wieder selbst an sich. »Sie suchen einen neuen Angestellten, der bei ihnen im Anwesen wohnt. Wenn du da erstmal lebst, hast du auch leichten Zugang dazu, anderen das Gedächtnis auszulöschen.«
»Wie genau soll das aussehen?«
»Die Familie hat morgen Abend einige Vorstellungsgespräche, für die ich dich angemeldet habe. Ich habe einige Beziehungen spielen lassen, damit die Wahrscheinlichkeit relativ hoch ist, dass du eingestellt wirst... Wenn du dich richtig anstellst. Heißt, ich würde dich wenigstens bitten es zu versuchen. Dafür hab ich dir auch etwas besorgt.« Er schob ihr eine Mappe entgegen. In feinstem Leder gehüllt mit einem goldenen Schild. Eingemeißelt in das Metall war ein Familienname: Treda.
»Haben die Hauseigentümer dir das gegeben?«, fragte sie, während sie die Kordel löste. Oben lag ein gefalteter Zettel mit der Raumaufteilung eines Anwesens. Einige Zimmer waren mit Symbolen versehen oder nur schemenhaft dargestellt.
»Naja, ich habe einiges anfragen lassen. Die Zimmeraufteilung ist sehr ungenau. Wir haben von den Fenstern aus schließen können, wo genau welcher Raum liegt. In der Realität könnte es auch anders sein. Das ist für dich nur eine leichte Stütze.«
Sie hielt sich den Kopf. Mehrere kleinere Briefe offenbarten sich ihr. Ihre Augenbrauen wanderten nach oben, als sie einige der Worte entzifferte. Sie deutete auf eines der Papiere. »Und das?«
»Das sind nur all die Aufgaben, die während dieser Zeit von dir verlangt werden. Ich habe noch einige Informationen der Familie für dich zusammenstellen lassen.«
»Ich soll auf Kinder aufpassen«, stellte die Aart nüchtern fest. »Auf Kinder.«
»Ja. Hast du damit etwa ein Problem?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
Chase zuckte mit den Schultern. »Ja, mag sein, aber du musst.« Er nahm sich die Pfeife. »Du musst dich in diesem Haushalt beliebt machen, um den Auftrag erfüllen zu können. Du willst mich ja nicht wieder enttäuschen.« Trotzdem der letzte Satz wie ein Scherz klang, wurde ihr Herz schwer
***
Dolunays Beine wurden vom Wasser gekitzelt, als es um sie floss. Die Strömung trieb neben Blättern auch düstere Gedanken zu ihr — ein Eindruck, der erschwert werden sollte, als sie aufblickte.
Einige Schritte vor ihr erhob sich ein Pavillon aus den Quellen. Auf seinem Dach Statuen, die jede Richtung überblickten.
Diesen Pavillon würde sie nicht betreten dürfen. Tat es nicht — schlicht aus Respekt heraus. Nicht umsonst war sie von ihresgleichen verstoßen worden. Sie hatte schon einmal zu oft gegen Regeln verstoßen.
Keine andere Wahl ergab sich ihr, als nun im Wasser zu stehen und mit ihrem Hüter zu sprechen.
Einen Gott hatte sie nicht mehr — nicht den Gott, an die die Aart glaubten. Vesp Eirian verbot Gewalt. Und Dolunay hatte gegen ihr oberstes Gesetz verstoßen.
Ihr blieb lediglich ihr Hüter: ein spiritueller Verbündeter, der sie in ihren Lebensentscheidungen begleitete. Ihr Hüter war ein Kind des Wassers.
Daher stand sie in den Quellen in der Nähe ihres Heimatdorfes, um ihm wieder näher zu sein, nachdem er so lange geschwiegen hatte. Wann immer sie mit ihm zu sprechen versucht hatte — er schwieg.Wie alles, was die Aart erschufen war auch dieser Ort wie aus einem Märchenbuch geschaffen. Wasserfälle stürzten sich herab. Kleinere Tropfen ergossen sich neben ihr. Um den kleinen See herum wucherten Weiden, deren Blattwerk bis zum Boden herunterreichte. Blaue Laternen; kleinere Lampen. Gefärbtes Marmor und der Klang eines Glockenspiels.
Ein Ort der Ruhe.
Doch die Aart konnte diese Ruhe nicht finden.Dolunay holte zittrig Luft, ließ sich dann nach hinten sinken, tauchte ihren Kopf unter. Ein Druck in ihren Ohren, das Wasser um ihrem Körper, die Welt hinter der Oberfläche.
Sie musste einen Ruhepol finden... Doch ihre Gedanken konnten nicht stehenbleiben, stattdessen blickte sie stur in den Himmel — durch das Wasser hindurch.
Was würden die anderen ihrer Art sagen, wenn sie wüssten, wie Dolunay ihrem Fluch gerecht geworden war?
Die Aart — als friedliche Rasse... Und wer war sie, wenn nicht das gesamte Gegenteil?
Während die anderen ihres Alters damals noch ihre Talente ausgeprägt hatten, künstlerischen waren, war Dolunay zu einer Kämpfernatur geworden. Einer Jägerin, die bald als einzige ihre Stätten von Wildtieren befreien sollte — möglichst ohne den Bogen dabei verwenden zu müssen.
Von jeher hatte man ihrer Begabung mit Missmut entgegengeblickt. Mit der Zeit hatten sie sich erst damit arrangiert, daran gewöhnt...
Bis zu jenem schicksalhaften Vorfall — diesem einen Tag.Dolunay tauchte auf, holte tief Luft.
Gedankenlöschen war das letzte, das sie störte. Sie hatte bereits weitaus schlimmeres vollbracht. Jeder hatte sie aufgegeben und selbst ihr Hüter war erschreckend still geworden.
Entweder lag dies daran, dass sie sich in einem zu unruhigen Zustand befand... Oder auch er hatte sie letztendlich aufgegeben, weil sie das Kind des Bogens war.
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Blut eines Cruors
Fantasy[Wattys 2022 Winner] »Wir sind Kreaturen des Lichtes und doch steckt in uns eine solche Dunkelheit. Willst du wirklich erfahren, was dann erst die Schatten kreieren?« Seitdem die Cruoren die Macht an sich gerissen haben, hat sich die kleine Hafensta...