Moral war tot. Das Schicksal von fremden Mächten geleitet.
Niemand war mehr sicher vor den Händen derjenigen, die über einem standen.
Niemand hatte mehr Kontrolle über sein Leben.Ein Leben, das man in dieser Stadt ohnehin nicht führen konnte.
Unter den Häusern Brus, in den Kellergewölben der Hafenmetropole, gab es nur einen wirklichen Herzschlag: das stete Treiben von Motoren. Jeder Schatten im dunklen Raum war wie eine Gefahr und wann immer ein Geräusche ertönte, sah Rhun sich um, nicht wissend, ob es sich dabei um eine Bewegung im anderen Raum, oder um den Aufstand der Rohre handelte.Dieser Keller war ein Gefängnis. Weiße Wände, Räder, Dunkelheit und Kabel, die gefährlich von der Decke herunterhingen. Pulte mit Schaltflächen, Wissenschaftler... Es war zu viel, als dass er es alles in sich aufnehmen könnte.
Der Schrei der Frau vor ihm schlug in ein Winseln um und sie krallte sich hinterrücks an einen der Kristalltürme, an denen ihr Kopf mit Kabeln befestigt war.
»Wie lange wird sie das durchhalten?«, fragte er, ohne den Blick zu einem der Wissenschaftler umzukehren, die sich hinter ihm aufgestellt hatten, um ihr Werk zu bewundern.
»Solange, bis es vorbei ist. Sind Sie das erste Mal hier, Veu Rhun?«
Ein Brummen. Das war seine einzige Antwort. Er war tatsächlich das erste und hoffentlich letzte Mal in diesen Räumen. So viele andere seiner Art hatten es sich vor ihm angesehen und waren begeistert vom Schauspiel gewesen, das sich ihnen bot.
Und doch sah er in dieser Attraktion den Reiz nicht.
Experimente waren das eine; die Opfer zur Schau zu stellen jedoch das Andere.Die Frau hatte eine zierliche Gestalt — ihre Haare so rosig, wie die Haut. Es war ein greller Ton, dass sie schier leuchtete. Alles hatte die selbe Farbe: Kleidung, Augen, Aura. Alles war rosig.
Selbst ihre... Falten.Rhun kniff die Lider zusammen, blies dann die Luft schaudernd aus. Falten. Bis vor wenigen Minuten noch war die Dame in ihren Zwanzigern gewesen; nun zerfurchte Alter ihr Gesicht. Ihre Augen wurden schwer, der Mund hing schlaff herunter, ihre Schultern zogen sich nach vorne.
Ein weiteres Mal schrie sie auf – die Stimme einer Weisen mit Lebenserfahrung.
Sie war vor ihm gealtert. Dahingerafft, wie eine Pflanze in falschem Wasser.
»Grausam«, flüsterte er, so, dass nur er es hörte.
Doch ein Wissenschaftler trat an ihn heran und streckte sein Ohr zu ihm: »Wie bitte?«
»Wie« Er hielt inne. »Wie wird sie wieder jung?«
»Mit einem Umkehrexperiment. Wollen Sie das auch sehen?«
»Nein. Dafür habe ich keine Zeit.«
»Natürlich, natürlich.«
»Wer ist sie?«
»Ich befürchte, das dürfen wir Ihnen nicht sagen. Dafür ist Ihre Position nicht hoch genug.«
Wieder nur ein Brummen, geschluckt von dem lauten Aufbegehren der Maschinen, Poltern der Rohre und Knistern in der Luft.
Dann wurde es still. Der Vorgang wurde abgeschaltet. Und die Frau fiel in sich zusammen — offensichtlich bewusstlos.
»Nun, ich werde jetzt gehen.«
»Wie finden Sie denn unsere Arbeit, Veu?«
Rhun betrachtete die Frau, dann nickte er einmal mehr. »Gut so. Weitermachen.«
Erstmals sah er die Forscher um sich direkt an, beachtete sie lange genug, dass sie in Unbehagen zur Seite schwankten, oder in Demut den Kopf senkten.
DU LIEST GERADE
Blut eines Cruors
Fantasía[Wattys 2022 Winner] »Wir sind Kreaturen des Lichtes und doch steckt in uns eine solche Dunkelheit. Willst du wirklich erfahren, was dann erst die Schatten kreieren?« Seitdem die Cruoren die Macht an sich gerissen haben, hat sich die kleine Hafensta...