Kapitel 17;3 - Zweischneidiges Schwert

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Dolunay blies die Wangen auf, als sie Chase Harding vor den Gittern stehen sah. Anders, als in den vergangenen Wochen, wurde er von niemandem begleitet, stand alleine an den düsteren Mauern. Seine Anwesenheit so einnehmend, als würden die Tore der Höllen sich öffnen.

Im Gegensatz zu anderen Anführer krimineller Organisationen sah man ihn unheimlich häufig auf offener Straße. Er zeigte Präsenz — direkt, unmittelbar. Ein stummes Zeichen: "Hier bin ich, meine Anwesenheit ist eine unwiderruflicher Dauer und mein Einfluss wird nicht von dir gestört werden können".

Die Menschen in diesem Viertel kannten ihn jedoch nur unter seinem Namen — nicht etwa wussten sie, dass sich hinter den vernarbten Zügen tatsächlich der Chase Harding versteckte, von dem man vereinzelt hörte. Während man hier sein Gesicht nicht kannte, gewann er stetig mehr an Einfluss, je weiter man sich südwestlich in Brus bewegte. In den Armenvierteln galt er als makelloses Beispiel für jemanden, der Grenzen durchbrach und sich Macht erkämpft hatte.

Doch Dolunay kannte Chase persönlich — kannte seine Geschichte. Sie war sich des Rhythmus' bewusst, der sein Herz zum Schlagen brachte: Rache.

»Heute?«, fragte er. Ein lüsternes Lächeln auf den Lippen, als sei er gierig nach Antwort.

»Ja, meinetwegen, dann heute Abend« Anderthalb Monate waren vergangen, seitdem sie hier angefangen hatte.
Es war ohnehin an der Zeit.

Oryn hatte eine zu präsente Stellung in ihren Gedanken eingenommen. Er schien jedes Licht der Hoffnung zu dämpfen.

Selbst wenn sie dem Herzog erfolgreich seine Erinnerungen auslöschen könnte, so müsste sie mit dem Aart seinen Vater aufsuchen.

Sie musste es; war dazu gezwungen.

Zwar könnte sie Chase nun einweihen — ihm erzählen, dass der Priester lebte, sein Sohn sie belästigte... Sie könnte auf seine Konfliktlösung hoffen...
Doch dann würde sie sich weiteres Versagen eingestehen.

»Du weißt, was zu tun ist, wenn du erwischt wirst?«

»Ich weiß. Ich halte mich auch daran.«

»Du weißt auch mittlerweile genug von seiner Tagesroutine?«

»Ja, Chase, ich habe mich die letzten Wochen auf nichts anderes als das vorbereitet.«

Ein Schmunzeln. Dann streckte er eine Hand aus, gab ihr einen kleinen Beutel, den sie an ihrem Gürtel unter den Rüschen ihrer Tunika verschwinden ließ.

»Wird schon«, murmelte er ihr mit kräftigender Tonlage zu.

»Warum sollte es denn auch nicht werden?«

Ihr Lächeln verpuffte als er antwortete: »Dolunay, ich kenne dich schon lange genug. Ich arbeite so lange mit dir, dass ich aus deinem Schweigen lesen kann.«

»Bilde dir nichts drauf ein.« Es war ein Glück, dass er den Auslöser ihres Missmuts nicht kannte.

Ein Schnaufen von hinten, doch Dolunay begab sich wieder in das Anwesen. Sie lief an den Wachmännern vorbei, bemüht, unauffällig zu wirken.

Tatsächlich war ihr Puls ruhig, ihr Körper kühl, ihre Gedanken klar. Einige mochten es als gefühlslose Falschheit bezeichnen, doch Dolunay nannte sich selbst „neutral". Taktisch, durchdacht, ein guter Schauspieler.

Sie betrat die Küche, füllte eine Kanne mit Wasser, um sie auf das Ofenfeuer zu stellen.

»Heute?«, fragte Oryn vom Nebenraum aus. »Willst dus heute machen?«

Es überraschte sie nicht. Er wusste von ihren Plänen, woher auch immer.
Sie hätte erwartet, dass er sie belauschte, doch Chase ging zu sicher, als dass das passieren könnte.
»Woher?«, flüsterte sie daher nur monoton.

Blut eines CruorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt