Kapitel 16;2 - Im Dienst der Ungewissheit

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Dolunay stand im Flur des Herrenhauses, ließ sich von dem hellen Licht der Lampen unterspülen, spürte die alte Anspannung, die wieder in ihr aufkam. Alles erschien normal — noch.

Zu ihren Füßen befand sich eine kleine Reisetasche, die Kenga ihr ausgeliehen hatte. In ihr befand sich lediglich das wesentlichste: Kleidung, einige Bücher, Papier und Tinte.

Die Wachmänner hatten sich bereits zu ihr gesellt und einer von ihnen machte Anstalten, ihr das Gepäck abnehmen zu wollen, um es zu durchsuchen.
Sie erlaubte es ihm schließlich mit einem Nicken. Nichts, was sie verheimlichen musste, trug sie darin. Die Droge fürs Gedankenlöschen würde sie später besorgen, wenn die Herrschaften ihr mehr vertrauten.

Die Hausherrin kam durch eine Seitentür und streckte eine Hand nach vorne, um Dolunay in mütterlicher Geste an den Rücken zu fassen. »Es freut mich, Sie hier wieder begrüßen zu dürfen. Sind Sie bereit? Ist alles gut?«

Gut war ein verschwenderischer Begriff, der sich viel zu weit auffächern ließ. Unter diesen Umständen, die in Brus herrschten, konnte man lange nicht von gut sprechen — erst recht nicht nach der Reihe von Ereignissen, die hier stattgefunden hatten. Noch heute wirkte selbst die Einrichtung im Schreck erstarrt. Die Mauern fielen bis heute in düstere Schatten. Das was sie gesehen hatten, hatte einen Abdruck in Dolunays Geist hinterlassen. Alles in der Eingangshalle färbte sich in ein Bild des Horrors.

Keine Nacht blieb ruhig für sie, immer wieder sah sie sich um — hinter sich; beachtete, dass die Straßenlampen noch leuchteten.
Mittlerweile hatte sie stets eine brennende Kerze in ihrem Zimmer.

Würde Dolunay noch in ihrer Heimat leben, hätte sie sich davor nicht zu fürchten.
Doch sie musste nach Brus flüchten. Denn Brus war Anlaufpunkt für verlorene Seelen. Und wie jeder andere wurde auch sie von Eigennutz getrieben. Die Stadt zog nur zwei Arten von Individuen an:
die, die keine andere Wahl sahen und die, die ihren Reichtum in erhabener Position über alle anderen ausleben wollten.

»Ich bin bereit, denke ich«, murmelte sie schließlich.

»Dann will ich Sie mal herumführen, was? Wollen wir Ihnen gleich mal die Mädchen vorstellen?«, fragte Linnett Treda, während sie zur Treppe nickte. »Die beiden sind in ihren Zimmern.«

Dolunay folgte ihr, jedoch nicht, ohne sich umzusehen. Die Wände waren mit Gemälden behangen: einige davon Landschaften, Tiere, ein gewaltiges Anwesen — das auffällig häufig als Element aufgenommen wurde — und Porträts. Sie mussten eine lange Geschichte des Reichtums haben.

»Wundern Sie sich nicht«, begann die Dame vor ihr. »Die Kinder sind etwas ruhig und unsicher Fremden gegenüber.«

Besser ruhig und unsicher, als laut und aufdringlich. Immerhin könnte Dolunay so Gleichgesinnte in ihnen finden.

Während sie sich den Flur entlangbewegten, stellte Herzogin Treda die einzelnen Räume vor und öffnete jede Tür, um einen Einblick zu gewähren. Schließlich blieb sie stehen und deutete auf einen verschlossenen Durchgang, den sie als Büroraum betitelte. »Da dürfen Sie nicht alleine rein. Egal wofür. Wenn irgendwas darin getan werden muss, soll einer von uns anwesend sein. Mein Mann will das nicht.«

Sie öffnete die Tür nicht einmal, als sei es ihr selbst nicht gestattet.

»Ich verstehe.« Immerhin war dieser Zustand nichts ungewohntes für Dolunay. Als sie das erste Mal unerlaubt in Chase Hardings Zimmer eingetreten war — alleine — war dies zugleich das erste Mal, dass er sie angeschrien hatte.

Schließlich kamen sie an einem Zimmer an, das offen stand. Im Inneren war es mit gelben zarten Blumenmustern tapeziert. Ein buntes Bett, unzähliges strahlend-angemaltes Spielzeug, große bodennahe Fenster. Und auf dem Boden kniend zwei Mädchen.

Blut eines CruorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt