An diesem Abend kam es in einem Mittelklassehotel in der Nähe des Syntagmaplatzes zu einer heftigen Diskussion. Die beiden deutschen Familien nahmen ihr Halbpensions-Abendessen gemeinsam ein, als Heike ihrem Vater klarmachte, dass sich die Machtverhältnisse in der Familie radikal verändert hatten. Sie warf ihm nicht nur seinen Vortrag auf der Brücke vor, sondern zweifelte seinen kompletten politischen Standpunkt an. Sie erzählte von den Diskussionen, die sie in der Festung geführt hatten, und kündigte an, die „Kinder" würden für den Rest des Urlaubs eigene Pläne machen.
Ihr Vater versuchte, sich zu rechtfertigen, was angesichts all der Dinge, die die Jugendlichen am Nachmittag gehört und erlebt hatten, vergeblich war. Er sprach die Verhaftung des Kanadiers an und warnte sie vor ihren neuen Freunden, die sich, wie er verächtlich hinzufügte, in aller Öffentlichkeit mit Landstreichern verbrüderten. Martin erhob Einspruch:
„Wenn die deutsche Regierung mich zur Bundeswehr einziehen und in so einen Krieg wie in Vietnam schicken würde, würde ich auch verweigern oder nach Berlin oder Schweden gehen. Fändest Du es dann auch richtig, wenn sie mich verhaften würden?"
Der Streit wurde laut und ließ keinen Kompromiss zu.
„Wenn Ihr wollt, dass wir uns nicht mehr mit unseren Freunden treffen, dann besorgt Euch am besten Handschellen. Dann könnt Ihr uns ja ans Bett fesseln," sagte Martin mit roten Kopf.
„Da weiß ich ein einfacheres Mittel," versetzte sein Vater. „Ich gebe Euch einfach kein Geld mehr, dann könnt Ihr auch nicht in der Gegend herumfahren."
Dieser Drohung begegneten die Jugendlichen gelassen, denn sie hatten schon gemerkt, dass das „Herumfahren" billig war. Ihre Bargeldreserven könnten noch einige Touren finanzieren.
Den nächsten Tag verbrachten sie bei Nikos in Agios Andreas. Der hatte ein Boot besorgt und seine Wasserski entstaubt. Alle durften ihre Runden drehen, die meisten mit Spaß, aber wenig Können, die vier australischen Strandjungs jedoch waren richtig gut und führten einige Tricks vor.
Tom und Sophia machten einen Spaziergang durch die Olivenhaine und schafften es endlich, allein zu sein. Im trockenen Gras liegend küssten sie sich, streichelten sich, doch mehr war auch hier nicht drin. Auf dem Rückweg zu Jannis' Haus versprach Sophia ihrem Freund eine Überraschung. Verliebte Mädchen planen gerne über den Tag hinaus.
Nikos versuchte, Heike näherzukommen, und erschrak ein wenig, als sie vorschlug, sie sollten doch auch einen kleinen Ausflug in die Umgebung machen. Kaum außer Sichtweite der anderen, küsste sie ihn. Er hatte gar keine Zeit, nervös zu werden. Sie versteckten sich hinter einem Gebüsch und verwöhnten sich gegenseitig fast eine Stunde lang, doch als er versuchte, mit seinen Fingern Heikes Slip von innen zu untersuchen, hielt sie ihn zart, aber bestimmt auf. Worüber er ein wenig froh war. Nikos hatte ein wenig Angst.
Dave hingegen war ein wenig neidisch, als seine beiden Freunde jeweils mit Begleitung verschwanden. Leider hatte Sophia ihre Freundinnen nicht mitgebracht, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als mit Georgios und den Australiern zu singen, zu spielen, zu schwimmen und zu raufen.
Es war schon dunkel, als sich die ganze Bande auf den Rückweg nach Athen machte. Bevor sie aufbrachen, fragte Nikos Tom nach der Szene am Busbahnhof:
„Was war das eigentlich gestern mit dem Bettler?"
„Er hat letztes Jahr zweimal die Geheimpolizei geleimt. Sie haben uns beschattet, als wir nach Delphi und Agios Andreas fahren wollten. Er hat sie in die falsche Richtung geschickt."
„Haben sie Dich also wirklich durchgehend beobachtet. Nicht gut. Aber dieser Bettler, wieso macht der sowas?"
„Weil er ein guter Mensch ist."
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Die richtigen Leute Band 2: Die Insel der Schreie
Teen FictionEin Jahr ist vergangen, seit Tom in Griechenland Menschen kennenlernte, die zugleich Opfer und Widerstandskämpfer der Militärdiktatur waren, seit er von der Geheimpolizei verhört und bedroht wurde, seit er neue Freunde fand und seit er Sophia ein Ve...