Tom war ein friedliebender Mensch, aber als um 7 Uhr der Wecker schrillte, wünschte er dessen Erfinder einen langsamen, qualvollen Tod. Weder der Grinse-Tom im Spiegel noch die lauwarme Chlorwasserdusche konnte seine Lebensgeister wecken.
Gemeinsam durchsuchten sie Daves Riesenkoffer nach brauchbarer Kleidung. Zum Glück gab es eine leichte Leinenhose, aber langärmelige Hemden oder Wollpullis waren kaum geeignet. Dave schwitzte schon jetzt. Am Abend trugen die jungen Männer in Piräus meist eine schwarze Stoffhose und ein weißes Hemd. Manche Jungen zogen stattdessen einfach ein Unterhemd an, hatte er am Abend festgestellt, und davon hatte er schließlich genug.
Tom riet ihm angesichts seiner blassen englischen Haut, viel Sonnencreme zu benutzen – er selbst hatte das nicht mehr nötig, denn er hatte sich im Sauerländer Freibad vorgebräunt. Er fand die Idee mit dem Unterhemd gut, hatte aber keins dabei, also lieh er sich eins von Dave.
Auf dem Dach warteten schon die Australier. Schnell wurde gefrühstückt. Dave ließ sein Geld in den Tresor legen, und Tom nutzte die Gelegenheit, Sophia anzurufen. Er wollte sie zu einem Trip ins Strandbad einladen, aber sie hatte schon einen anderen Plan für den nächsten Tag. Mit Georgios und ihren Freundinnen wollte sie nach Salamis fahren und Verwandte besuchen. Sie meinte, Tom sollte auch Dave, Nikos und die Australier einladen, denn – so ihr Kalkül – je mehr Leute da waren, umso leichter könnten die beiden sich verdrücken.
Allerdings hatte sie auch eine schlechte Nachricht:
„Mein Vater muss seine Reise zu seinen Eltern verschieben. Wenn er hier ist, lässt er mich niemals mit auf die Euböa."
„Wir können ja sowieso erst fahren, wenn wir von Kreta wiederkommen. Dann passt das schon."
Schließlich verabredeten sie sich für den nächsten Tag an der Fähre nach Salamis, auf Toms Einwand hin aber erst um zwölf. Irgendwann braucht der Mensch mal ein bisschen Schlaf.
Sie schafften es tatsächlich, mit wenigen Minuten Verspätung am Busbahnhof einzutreffen, wo Nikos sie schon erwartete. Tom suchte mit den Augen den Vorplatz nach dem Bettler auf dem Rollbrett ab, bei dem er im letzten Jahr manchmal Zigaretten gekauft hatte, aber er fand ihn nicht. Der Bus nach Delphi war halb leer, und so besetzten sie die beiden letzten Reihen. Im Radio lief griechische Volksmusik. Tom fühlte sich zuhause.
Zügig ließen sie die Innenstadt hinter sich, denn der Verkehr brandete ihnen zwar massenhaft entgegen, aber in ihrer Richtung gab es keine Staus. Nach einem Atemzug waren sie in Delphi – so kam es ihnen jedenfalls vor, denn sie erzählten sich die ganze Zeit Geschichten aus ihren so unterschiedlichen Welten.
Nikos' Plan ging auf: keine Touristen weit und breit. Er führte die Gruppe zum Museum, um ihnen die ungestörte Begegnung mit der wunderbaren Statue des Wagenlenkers zu ermöglichen.
Er hielt sich mit Tom im Hintergrund und beobachtete die Experten, die die Figur von Abbildungen kannten. Sie betrachteten sie von allen Seiten. Randy zog sogar eine Lupe aus der Tasche. Dave staunte. Er ging langsam immer näher an den antiken Metallmann mit den funkelnden Augen heran. Er hatte sich gewundert, dass sein deutscher Freund so von einer alten Statue schwärmte. Nun verstand er.
Tom und Nikos warteten vor dem Museum rauchend auf die anderen, während sich der erste Touristenbus näherte. Zusammen stiegen sie durch die herumliegenden oder -stehenden Trümmer langsam den Berg hinauf. Tom war von vornherein klar, was Nikos vorhatte, und der Tag war perfekt dafür. Noch wehte eine leichte Brise vom Meer, aber es war schon warm. Am Himmel zeigten sich noch keine Wolken. Er wusste, das würde sich bald ändern, und er freute sich darauf.
Sie erreichten den Innenraum des Theaters, das in die Bergflanke eingebettet war. Die Australier blieben stehen und fotografierten die zahlreichen Ruinen, die zu ihren Füßen lagen, während die anderen die Marmorstufen hinaufkletterten. Dave war in der letzten Stunde immer schweigsamer geworden, was Tom und Nikos nicht entgangen war.
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Die richtigen Leute Band 2: Die Insel der Schreie
Teen FictionEin Jahr ist vergangen, seit Tom in Griechenland Menschen kennenlernte, die zugleich Opfer und Widerstandskämpfer der Militärdiktatur waren, seit er von der Geheimpolizei verhört und bedroht wurde, seit er neue Freunde fand und seit er Sophia ein Ve...