15 Vom Anarchisten zum Bankangestellten

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Ausgeschlafen und voller Tatendrang erschienen Tom und Dave gegen Mittag auf der Terrasse. Basilis war nicht da, er musste dringend nach Agios Nikolaos am Ostende der Insel. Lydia hatte Neuigkeiten aus Chania:

„Ist alles gutgegangen. Andreas wartet schon auf Euch."

Gut gelaunt fuhren die beiden los. Am Stadtrand tankten sie die Vespa voll, dann nahmen sie die Hauptstraße Richtung Rethymnon. Sie hatten noch Zeit, und so beschlossen sie, an einem Strand ein erfrischendes Bad zu nehmen. Die Badehosen hatten sie in letzter Zeit vorsichtshalber immer dabei.

In Rethymnon stiegen sie in den roten Opel um. Als die Dämmerung hereinbrach, fanden sie das Haus in Chania, dessen Lage sich Tom anhand des Stadtplans genau eingeprägt hatte. Sie parkten den Wagen. Die Haustür der Pension war nicht verschlossen. Sie stiegen eine steile Treppe hinauf und klingelten an der einzigen Tür. Ein Mann öffnete ihnen und bat sie herein. Dann klopfte er an einem Zimmer und betrat mit Tom den spärlich erleuchteten Raum.

Andreas starrte Tom ungläubig an. Er stand immer noch stumm da, als sich Randy, Rudy und Dave in den Raum drängten. Tom brach das Eis, indem er sich auf die Zehenspitzen stellte und ihm einen Kuss auf jede Wange drückte:

„Willkommen in der Freiheit."

Die anderen umarmten ihn der Reihe nach, und allmählich fand er seine Sprache wieder:

„Wie zur Hölle kommt Ihr denn hierhin?"

„Bequemer als Du jedenfalls, nehme ich an," versetzte Randy trocken. „Wir können doch unseren kleinen kanadischen Anarchistenfreund nicht den Amis überlassen. Darf ich Dein Gepäck nehmen? Wir haben eine lange Reise vor uns."

„Welches Gepäck?"

„Kleiner Scherz, komm, lass uns fahren."

Tom und Dave nahmen Andreas auf der Rückbank in ihre Mitte und fragten den Kanadier aus.

„Ich war nur eine Nacht in Athen, in einer Polizeikaserne. Dann haben sie mich auf eine Fähre nach Chania gebracht. In Souda haben mich die Griechen verhört. Sie wollten wissen, ob ich politische Kontakte in Griechenland habe. Habe ich natürlich nicht. Ich habe ihnen von meinen Verwandten erzählt, und sie haben mich ein paarmal verprügelt. Dann haben sie wohl herausgekriegt, dass ich wirklich Verwandtschaft in Korinth habe. Ein Offizier meinte noch, es wäre ja eigentlich nicht richtig, einen Halbgriechen an die USA auszuliefern, aber das müssten sie tun. Und wie habt Ihr es nun geschafft, mich da rauszuhauen?"

Sie erzählten ihm, wie und von wem seine Befreiung organisiert worden war. Andreas war heilfroh, denn eine Auslieferung an die USA, deren Staatsbürger er nach wie vor war, hätte einige Jahre Gefängnis bedeutet. Es war eine gute Idee gewesen, sich bei der Hilfsorganisation registrieren zu lassen. An einem Kiosk am Stadtrand bat Tom Randy, anzuhalten.

Er rief bei Jannis an und hatte Glück. Nikos war da. Er sagte nur drei Worte, „Wir haben ihn," und legte auf. Nikos rief in Heikes Hotel an und beauftragte den Portier, sie um einen Rückruf zu bitten. Die beiden deutschen Familien hatten gerade ihr Abendessen beendet, das unter beredtem Schweigen stattgefunden hatte, als ein Page nach Heike fragte und ihr einen Zettel mit Nikos' Botschaft übergab.

Keine zehn Minuten später klingelte Jannis' Telefon. Nikos bestellte die vier Deutschen in eine Taverne in der Nähe ihres Hotels, wo er in einer Stunde sein wollte. Er verriet nicht, welch gute Neuigkeiten er für sie hatte. Er wollte Monika überraschen. Und ganz nebenbei Heike ein bisschen beeindrucken, so viel Eigennutz durfte schon sein, fand er. Er hielt noch einmal an der Kapelle, stellte sieben Kerzen auf, steckte zwei Hunderter in den Opferstock, kniete sich hin und sagte Dank.

Am Hotel der Australier stieg Tom auf die Vespa um, während Dave Randy zu Lydias Haus in Iraklion lotste. Dort kamen sie mit ihrem geheimen Passagier gegen elf Uhr an. Basilis führte Andreas in das letzte freie Zimmer und befahl ihm mit gerümpfter Nase, sofort zu duschen. Dann verabschiedete er Randy. Er sollte am nächsten Morgen mit seinen Freunden um neun wieder da sein, damit sie den Ausflug in den Süden der Insel auch wirklich auskosten konnten.

Tom traf wenig später ein. Er setzte sich mit Dave und Basilis auf die Terrasse. Eigentlich gab es nichts zu berichten, denn alles war völlig problemlos verlaufen. Trotzdem redeten sie stundenlang. Tom wunderte sich, dass weder Lydia noch Andreas da waren. Das Rätsel löste sich, als beide zu ihnen stießen. Der Kanadier war kaum wiederzuerkennen. Lydia hatte ihm die Haare kurz geschnitten und ihm eine Frisur mit Scheitel verpasst. Er trug eine graue Hose und ein hellblaues Hemd. Der zottelige Anarchist hatte sich in einen leicht gequält lächelnden, braven Bankangestellten verwandelt, der allerdings ein blaues Auge und mehrere blaue Flecken an den Armen hatte. Die Freiheit verlangte eben ihre Opfer. Basilis klärte ihn über den weiteren Ablauf auf.

„Die nächsten beiden Tage musst Du im Haus bleiben. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Dann fährst Du mit den anderen nach Piräus. Am Hafen wirst Du abgeholt. Du versteckst Dich bei Freunden in einem Dorf bei Athen. Da bleibst Du ein oder zwei Tage, dann wirst Du nach Italien gebracht. Von Rom aus fliegst Du über Shannon in Irland nach Toronto. Das arrangiert die Organisation, die uns auch das Geld zur Verfügung gestellt hat. Sie geben Dir in Italien einen neuen Pass. Frag mich nicht, wie die das machen. Na, wie hört sich das an?"

Andreas war sprachlos. Nach einer Weile fragte er:

„Warum tut Ihr das? Sie können Euch dafür alle einsperren."

„Also erst mal finden wir, dass Du nicht ins Gefängnis gehörst. Und wir glauben, Du hättest für uns dasselbe getan. Außerdem ärgern wir ganz gerne unsere amerikanischen Freunde. Und dann ist da ein Nikos, wenn der nicht Himmel und Hölle in Aufruhr versetzt hätte, säßest Du jetzt nicht hier."

„Aber für so etwas braucht man eine Organisation, das kann man doch nicht mal eben so nebenbei machen. Woher wusstet Ihr überhaupt, wo ich bin?"

„Sagen wir es so. Wir kümmern uns in unserer Organisation eigentlich um griechische Angelegenheiten. Wir bekämpfen das Regime, und wir haben ziemlich gute Verbindungen. Aber wir helfen auch gerne Leuten, die auf unserer Seite stehen. Wer weiß, wann Du uns in Kanada mal einen Gefallen tun kannst."

„Jederzeit, an jedem Ort. Was immer Ihr wollt."

Glücklich und zufrieden, einen großen Erfolg gelandet zu haben, fielen in Iraklion, Rethymnon, Athen und Agios Andreas einige junge Menschen ins Bett.

Sandy's Tagebuch

Rethymnon Aug 4

Das war ein ganz, ganz großer Tag.

Morgen Gortyn, Sensation!!

Dave's Tagebuch

Kreta, Aug 4

1. Das war leicht.

2. Reiner Routinekram

3. Anfängerjob

4. Ich bin stolz auf mich, auf Tom, auf alle.

Martins Notizblock

Athen 4. August

Nikos getroffen. Dave, Tom und die Aussies haben Andreas befreit. Sie haben Andreas aus dem Gefängnis befreit!!!

Jetzt heult nicht nur Monika, Heike auch. Ich fast auch.

Jürgen meint, wir sollten bei denen mitmachen. Ob sie uns lassen?

Ich würde so gerne Vater sagen, meine Freunde haben unseren Freund, Andreas den Anarchisten, aus dem Gefängnis geholt, und ich mache bei denen jetzt auch mit. Ich glaube, das hat Zeit bis Nürnberg. Ich freu mich jetzt schon auf sein Gesicht.

Die richtigen Leute Band 2: Die Insel der SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt