12 Ein Urlaubsparadies mit Maschendrahtzaun

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„Wo bin ich?" fragte sich Tom, als er am nächsten Morgen erwachte. Es dauerte einen Moment, bis er sich erinnerte. Das riesige Bett aus Stahlrohr stand in einem muffigen Zimmer, das mit einem Schreibtisch nebst Stuhl, einem Schrank, vor allem aber endlosen Bücherstapeln vollgestopft war. Basilis hatte ihnen sein Nachbarzimmer gegeben. Tom fragte sich, wie er es finden würde, wenn zwei wildfremde Leute in seinem Bett schlafen würden, ohne ihn zu fragen. War das noch Gastfreundschaft oder schon Sozialismus?

Nach einer ausgedehnten Dusche mit angenehm fast-kaltem Wasser führte er ein ausführliches Zwiegespräch mit dem Spiegel-Tom. Der war mit nach Kreta gereist und verteilte nun so schlaue Ratschläge wie zum Beispiel, dass man eine Vespa immer volltanken sollte, wenn der Tank halb leer sei. Tom fühlte sich für seinen ersten richtigen Auftrag gerüstet.

Als auch Dave einen ähnlichen Frischegrad erreicht hatte, setzten sie sich zu Basilis und Lydia auf die Terrasse. Nach dem Frühstück breitete der Grieche eine Straßenkarte aus und erklärte ihnen den Tagesablauf.

„Zuerst fahrt Ihr die Hauptstraße nach Chania. Dreht unterwegs ein paar Runden in Rethymnon und prägt Euch die Wege zum Hotel Eurer Freunde ein. Man weiß nie, wofür das gut sein kann. Dann fahrt Ihr weiter Richtung Chania. Ungefähr eine Viertelstunde hinter Rethymnon geht ein Weg nach links ab, das Schild sagt „Mouri". Fahrt den Weg bis zum Ende, das ist an einem See. Haltet Euch rechts. Nach 100 m kommt ein Gasthaus, das steht da ganz allein. Setzt Euch rein und trinkt was. Essen gibt's da in der Woche nur abends. Stellt die Tasche unter den Tisch und lasst sie da. Alles klar so weit?"

„Wer in dem Gasthaus weiß, dass wir kommen?"

„Der Wirt erwartet Euch. Anschließend fahrt Ihr zurück auf die Hauptstraße in Richtung Chania. Nach einer knappen halben Stunde kommt Ihr an einer Tankstelle vorbei. Merkt Euch den Tachostand. Zwei Kilometer weiter seht Ihr rechts unterhalb der Straße den Zaun von Souda Bay. Nach 500 m steht auf der linken Straßenseite ein Opferstock, rechts ungefähr 50 m hinter dem Zaun eine kleine, weiße Hütte. Auf dieser Höhe wird morgen Nacht unser Mann warten. Prägt Euch die Stelle genau ein, aber fallt nicht auf. Tagsüber ist da viel Verkehr, aber nachts ist kaum ein Auto unterwegs.

Dann guckt Euch Chania an. Fahrt an den See zurück, sodass Ihr da seid, wenn es dunkel wird. Ihr bekommt ein Abendessen, umsonst natürlich. Der Wirt gibt Euch ein altes Funkgerät und Papiere, die auf keinen Fall in falsche Hände geraten dürfen. Wartet bis elf Uhr. Sollte auf dem Rückweg irgendetwas Ungewöhnliches passieren, fahrt zu Euren Freunden in Rethymnon. Zur Not müsst Ihr die Sachen bei ihnen verstecken."

„Und wenn wir in eine Polizeikontrolle kommen?" fragte Tom.

„Das hat es auf der Strecke nachts noch nicht gegeben. Im Fall der Fälle müsst Ihr improvisieren. Hoffen wir, dass alles glatt geht, dann kommt Ihr direkt hierher."

Tom und Dave sahen sich die Karte ganz genau an, ließen sich Symbole erklären und maßen einige Entfernungen ab.

„Wie weit ist der Zaun von der Straße entfernt?"

„Meistens 50 oder 80 Meter. Es gibt eine Reihe Büsche, hinter denen Du Dich nachts verstecken kannst."

„Okay. Dave, Du fährst, ich übergebe das Funkgerät."

„Wenn Du zum Zaun gehst, bleibe ich mit dem Roller oben an der Straße, ein Stück weiter. Ich ziehe den Kerzenstecker ab und packe Werkzeug aus. Wenn jemand vorbeikommt, wird er meinen, dass ich eine Panne habe. Das ist unauffälliger, als die ganze Zeit in der Gegend herumzukurven."

Basilis schnallte die Tasche mit dem Funkgerät auf den Gepäckträger. Dave warf einen Blick in das Fach unter der Sitzbank und fand eine kleine Werkzeugtasche. Dann fuhren sie los. Der Verkehr auf der gut ausgebauten Küstenstraße war mäßig, sodass sie ganz gut mitschwimmen konnten. Sie überholten einige Lastwagen, der Wind kühlte sie, und Tom war froh, seine Sonnenbrille aufgesetzt zu haben. So hauchten die Mücken dort ihr Leben aus, und nicht auf seinen Augen. Eigentlich wollte er auch einen Helm tragen, wie er das in Deutschland tat, aber Basilis riet ihm ab. Zu auffällig, meinte er, auf Kreta mit Helm zu fahren.

Nach einer Dreiviertelstunde erreichten sie Rethymnon. Obwohl sie vorher den Plan des Städtchens studiert hatten, wurde ihnen fast schwindelig in den schmalen Gassen, in denen zwar zwei Motorräder, aber keine zwei Autos einander passieren konnten. Mitten in der Stadt fanden sie das Hotel, das nicht zu übersehen war: auf dem schmalen Bürgersteig vor dem Haus saßen die Australier, Sandy mit Gitarre und Manny mit Mundharmonika. Einige Touristen, aber auch Griechen standen um sie herum und lauschten der Musik. Sie hielten an. Randy kam zu ihnen.

„Du stinkst nach Ouzo," flüsterte Tom. „Pass auf. Wenn wir diese Nacht bis ein Uhr nicht hier sind, ist alles gut und Ihr könnt schlafen gehen."

Tom und Dave fuhren weiter, und die Australier machten sich auf in die Festung im Westen der Stadt. Sandy und Manny hatten ein neues Hobby: sie hatten schon in Athen die „Dachlandschaft" aus allen möglichen Perspektiven fotografiert, vom Hotel aus, von der Akropolis und auch vom Lykabettos-Hügel.

Das venezianische Kastell bot einen guten Überblick über Rethymnon. Noch besser wäre die Sicht von einem Minarett, aber sie waren ja lange genug hier, um das zu testen, dachte Sandy. Er nahm einen langen Zug aus seiner Wasserflasche, denn sein Körper schrie nach Flüssigkeit. Der letzte Ouzo in der Nacht zuvor war wohl einer zu viel gewesen.

Nach etlichen Runden in der Stadt meinten Tom und Dave, das Hotel im Schlaf wiederfinden zu können. Auf dem Weg an den See wünschten sie sich, ein geländegängiges Motorrad zu haben. Die Vespa schlingerte ganz schön auf dem unbefestigten Untergrund; besonders schnell konnten sie nicht fahren.

Das Wirtshaus, ein zweistöckiger, weiß getünchter Bau, stand 50 m oberhalb des Seeufers am Fuß eines bewaldeten Hangs. Am Wochenende war hier viel Trubel, denn die Taverne hatte den Ruf, die Fische aus dem See meisterlich zuzubereiten. Heute aber waren sie die einzigen Gäste. Ein junger Mann, der nur das Allernötigste sprach, brachte ihnen Kaffee und Wasser. Eine Bezahlung lehnte er ab. Nach einer halben Stunden waren sie wieder unterwegs. Die Tasche „vergaßen" sie unter ihrem Tisch.

Sie tankten den Roller an der beschriebenen Tankstelle auf und fuhren nicht zu langsam, aber äußerst aufmerksam die nächsten Kilometer ab. Alles war so, wie Basilis es beschrieben hatte. Etwas hatte er ihnen allerdings verschwiegen: wie schön es hier war. Eine riesige Bucht mit weißen Stränden und knallblauem Wasser erstreckte sich zur Rechten, dahinter hügeliges Gelände mit einigen Zweckbauten darauf. Das hätte ein wahres Urlaubsparadies sein können, wäre da nicht dieser an Betonpfeilern befestigte Maschendrahtzaun gewesen, etwa 3,50 m hoch und oben mit Stacheldraht versehen, und mitten in der Bucht ein riesiger amerikanischer Flugzeugträger. An den Piers lagen einige weitere Kriegsschiffe, in der Ferne waren auch Fahrzeughallen und Kasernen zu sehen.

Eine halbe Stunde später saßen Tom und Dave in Chania auf der Kaimauer vor dem nautischen Museum und genossen den Blick auf den alten Hafen mit seinen bunten Häusern und dem Leuchtturm am Ende der Mole. Die Stadt war nicht viel kleiner als Iraklion, der Verkehr im Zentrum ebenso chaotisch. Hier war es ruhiger. Hin und wieder fuhr ein Militärfahrzeug vorbei.

Sie diskutierten den Ablauf des nächsten Tages. Eigentlich sah das alles ganz einfach aus. Nur einmal blitzte vor Toms innerem Auge eine Straßensperre auf. Er vertrieb den Gedanken ganz schnell, darin hatte er inzwischen Übung. Die Sonne, der leichte Meerwind und die romantische Aussicht halfen ihnen, Urlaubsgefühle aufkommen zu lassen.

Die richtigen Leute Band 2: Die Insel der SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt