10 Ich kann sehen, was du getan hast

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Rudy erzählte seinen Kollegen natürlich von den beiden Männern, die er mit Tom im Hotel gesehen hatte.

„Irgendwas haben die mit dem Kreta-Trip zu tun," meinte er. „Würd mich schon interessieren, was Tom und Dave da machen."

Sie beschlossen, das Thema nicht auszubreiten. Über dem Frühstückstisch lag ohnehin Nervosität. Die Unterhaltung verlief einsilbig. Es war selbst für Athener Verhältnisse ungewöhnlich heiß, kein Lüftchen regte sich.

Am frühen Nachmittag kam dann endlich Nikos. Mit Tom und Dave ging er schweigend und ernst die Treppe zu ihrem Zimmer hinunter. Dort angekommen, umarmte er seinen Freund.

„Ganz ehrlich, heute habe ich manchmal Panik bekommen. Ich musste fast eine Stunde in einem Café warten. Dann kommt dieser Amerikaner. Er fragt mich aus, wie, wann, wo wir Andreas kennengelernt haben, und was wir genau vorhaben. Ich hab vorsichtshalber mal so getan, als ob alles bis zum Ende durchgeplant wäre. Er hat dann gesagt, wir sollen uns melden, wenn Andreas frei ist. Sie helfen uns, ihn nach Hause zu bringen. Dann gibt er mir diesen Umschlag und geht. Ich bin wie der Teufel hergerast. 2000 Dollar! Das ist ein ganz anderes Gefühl. Bin ich froh, dass ich hier bin."

Sie stellten noch einige Spekulationen darüber an, was in den nächsten Tagen so alles passieren könnte, rein untergrundmäßig gesehen, aber auch in Bezug auf Nikos' neue Liebe, und sie sprachen sich gegenseitig Mut zu. Nikos ermahnte Tom, jeden Tag anzurufen. Er würde entweder in Jannis' Werkstatt oder in Agios Andreas sein, wenn er nicht auf einer Kurierfahrt war. Dann mussten sie sich schweren Herzens verabschieden. Nikos umarmte Tom.

„Ihr packt das schon. Denk dran, Nikos ist immer dabei."

Und dann küsste er ihn auf den Mund. Als der Kuss schon längst viel mehr war als ein Abschiedskuss, trennten sie sich.

„Dave, pass mir gut auf meinen Gangster auf," sagte Nikos und umarmte ihn. Dann ging er.

Tom ahnte, was kommen würde.

„Hey, was war das denn gerade?" Dave war verwirrt. Tom kramte in seinem Kopf nach einer einfachen Antwort, aber die hatte er nicht parat. Er wusste selbst nicht so genau, was das eigentlich war zwischen Nikos und ihm. Freundschaft, natürlich. Vertrautheit, engste. Vertrauen, grenzenlos. Liebe? Ja, auch das. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, fühlte er für Nikos nicht viel anders als für Sophia.

„Wir sind eben sehr gute Freunde," war die für Dave zusammengestutzte Quintessenz seiner Überlegungen, die ihm selbst die Tatsachen erstmals wirklich klar vor Augen führten.

„Du willst mir erzählen, Ihr seid ..., Ihr liebt Euch, oder was?"

„Nein, schwul sind wir nicht, beide nicht. Aber Du hast recht, ich glaube, irgendwie lieben wir uns wirklich. Ganz ehrlich, das ist ein ziemlich komisches Gefühl. Aber schwul, nee. Oder bin ich Dir schon mal zu nahe gekommen?"

„Nein, das nicht, aber Dein Schnarchen nervt manchmal ganz schön."

Sie packten die beiden Reisetaschen und deponierten Daves Koffer mit allem, was sie nicht brauchten, im Büro des Hoteliers. Auch die Australier räumten ihre Zimmer aus.

Ausnahmsweise fuhren sie mit einem „fremden" Taxi nach Piräus, wo sie sich um 7 mit Sophia und Georgios zum Abendessen trafen. Dave freute sich, denn Dora und Maria waren mitgekommen und wurden rechts und links von ihm platziert – so viel Unterstützung musste sein für einen einsamen Krieger, bevor er in die Schlacht zieht, fand Sophia.

Eine Stunde später waren sie alle am Anleger der Kreta-Fähre, wo sich Georgios, Dora und Maria verabschiedeten, während Sophia ganz selbstverständlich mit den jungen Männern an Bord ging. Sie erklärte dem Purser, der die Kabinen verteilte, sie wollte sich die Kajüte ihrer Cousins ansehen.

Der winzige Raum hatte ein Etagenbett, das höchstens 70 cm breit war, einen schmalen Schrank, einen angeschraubten Tisch und zwei Sesselchen. Durch ein Bullauge waren die Umrisse eines anderen Schiffs zu sehen.

„Hey Dave, sieh doch mal nach, wo die Australier sind, Tom kommt dann nach. Ich wünsche Euch eine gute Reise," komplimentierte Sophia ihn aus der Kabine.

„Eine Stunde," lächelte sie und begann, Toms Hemd aufzuknöpfen. Der verstand das als Aufforderung, ihr ebenfalls beim Ausziehen behilflich zu sein, und in Windeseile waren beide nackt, und zwar ganz nackt. Das Bett war einfach zu schmal, um nebeneinander zu liegen, und so dauerte ihr Vorspiel Sekunden, dann dirigierte Sophia Toms kleinen Ableger dahin, wohin er gehört, und kaum hatte er sich dort eingelebt, musste Tom ihn schon wieder ans Tageslicht zurückholen. Nachdem er schon einmal fast zwangsverheiratet worden wäre, wollte er nicht womöglich auch noch Vater werden.

Sophia fand – wie auch Tom – dieses Vergnügen entschieden zu kurz, und in aller Ruhe schliefen sie ein zweites Mal miteinander. Sophia fing an zu stöhnen, aber Tom bat sie, leise zu sein. Die Wände waren dünn, und die Nachbarkabine war schon belegt. Sophias Körper begann zu beben, und den einen oder anderen leichten Seufzer konnte sie nicht zurückhalten. Gerade noch rechtzeitig zog Tom seinen kleinen Freund aus seinem neuen Lieblingsplatz und nahm sich vor, das Bettuch abzuziehen, bevor er sich schlafen legte.

Ganz langsam zogen sie sich an. Ein inniger Abschiedskuss beendete Toms Aufenthalt in Piräus, und Sophia verließ glücklich vor sich hin summend das Quartier ihres „Cousins". Doch, es hatte sich gelohnt, ein Jahr zu warten.

Tom glitt an den Messinggeländern schwebend die steilen Treppen bis zum Oberdeck hinauf, wo er seine Freunde an einem langen Tisch sitzend vorfand. Wolke sieben trug ihn zu ihnen, und Sandy empfing ihn mit seinem breitesten Lächeln:

„Ich kann sehen, was Du getan hast. War's gut?"

„So gut," sagte Tom, setzte sich auf seinen Schoß, drückte seine Lippen auf die des konsternierten Australiers, seine Zunge verlangte Einlass, der gewährt wurde, und er knutschte Sandy mindestens 20 Sekunden lang.

„So gut," wiederholte er, und am liebsten hätte er alle anderen, und den Rest der Welt gleich mit umarmt, riss sich aber im letzten Moment zusammen.

Siedend heiß fielen ihm die beiden Taschen ein. Er wollte sie doch nicht unbeaufsichtigt lassen!

„Ich gehe dann mal in die Kabine, du weißt, die Taschen," sagte er zu Dave. Der versprach nachzukommen, wenn das Schiff ausgelaufen war. Tom besorgte sich auf dem Weg nach unten noch eine Flasche Wasser. Dann setzte er sich auf einen der kleinen Sessel. Er hätte singen, tanzen, schreien können, aber er war gleichzeitig völlig matt. Er starrte das Bullauge an und sah in ihm die Fetzen seiner Gedanken aufblitzen. Sophia, Sophia, immer wieder Sophia, und manchmal Nikos.

„Ich nehme dann mal das Bett oben," bemerkte Dave trocken, als er, von Tom völlig unbemerkt, die Kabine betrat.

„Dachte ich mir," murmelte Tom, und als sie später im Dunkeln lagen, und der Schiffsdiesel mit vertrauenerweckendem, tiefen Dröhnen regelmäßig vor sich hin stampfte, und als das Meer das Himmelbett des Jungen aus dem Sauerland in sanfte Schwingungen versetzte, meinte Dave:

„Erzähl doch mal," und Tom erzählte viel, fast alles, aber nur fast, bis sie einschliefen.

Ein Poltern weckte ihn aus seinen Träumen. Er brauchte eine Weile, bis er sich orientieren konnte. Dann stellte er fest, dass seine Wasserflasche umgefallen war. Das Schiff schwankte heftig. Dave schlief weiter, obwohl er Licht gemacht hatte. Er zog sich an und stieg die Treppen zum Sonnendeck hoch, wobei er sich diesmal mit beiden Händen an den Geländern festhalten musste. Der Sturm peitschte die Wellen, einzelne Schaumkronen tauchten aus der Dunkelheit auf.

Auch die Australier waren wach. Sie hatten gar nicht geschlafen. Tom klammerte sich an die Reling und ließ sich den Wind ins Gesicht blasen. Er fühlte sich stark.

Die richtigen Leute Band 2: Die Insel der SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt