Der junge Mann mit den langen Haaren blieb stehen und drehte sich zu ihnen um. Er stützte sich auf seinen Stab, und wie er da im Gegenlicht wie ein Schemen stand, musste Tom an den biblischen Propheten denken, der vom Berge herab schreitet.
Sie bewegten sich nun in den steileren Hang, wo sie nur noch langsam vorankamen. Der Mann mit dem Hirtenstab erwartete sie:
„Schön habt Ihr gesungen. Ich bin Andreas aus Toronto. Freu mich, Euch zu treffen. Wollt Ihr nach Akrokorinth?"
Randy übernahm das Kommando:
„Nein, wir sind auf dem Weg zum Berg Sinai, Du Clown," frotzelte er. Im Schnelldurchgang stellte er die anderen vor.
„Lasst uns zusammen raufgehen," meinte Andreas. Sie mussten schräg an dem Berg hochwandern und sich immer ein wenig nach rechts halten, um den Eingang nicht zu verpassen, schließlich konnte man ja nicht die Festungsmauern erklettern. Obwohl das Dave schon gereizt hätte. Aber er schwitzte auch so schon wieder genug.
Andreas war eigentlich Amerikaner. Er war der Einberufung zur US-Armee durch seinen „Umzug" nach Toronto zuvorgekommen. Dort studierte er Forstwirtschaft, machte seinen Abschluss und beschloss, sich das Land seiner Großeltern anzusehen, bevor er ins Arbeitsleben einstieg. Der kleine Junge war ein Großneffe, dessen Familie in Korinth wohnte, und der ihm unbedingt den Weg zur Festung zeigen wollte.
„Du bist also ein Deserteur? Ist das nicht gefährlich?" fragte Georgios. Er erinnerte sich an Muhammad Ali, der wegen seiner Kriegsdienstverweigerung alles verloren hatte. Andreas, der sich in Toronto Andrew nannte, gab ihm recht.
„Wie hast Du es geschafft, dass sie Dich mit den Haaren reingelassen haben?" fragte Tom etwas neidisch. Er hatte nach Monaten wieder einmal den Hohenberger Frisör aufgesucht und seine Haarpracht auf Griechenland-Maß stutzen lassen.
„Ich bin mit dem Schiff aus Italien gekommen, da hat das niemanden interessiert. Am Flughafen sind sie wohl strenger."
Die Nürnberger Ehepaare erreichten gerade das Hochplateau der Festung, als sich die jungen Leute dem Eingang näherten. Sie waren davon ausgegangen, ihre Kinder und deren neue Freunde hätten sich zum Strand abgesetzt, und nun kraxelten die doch tatsächlich freiwillig diesen Berg hoch! Etwas kleinlaut schlug Heikes Vater vor, sich möglichst weit entfernt von den Jüngeren zu halten. Toms Ausbruch steckte ihm noch in den Gliedern.
Selbstverständlich übernahm Nikos die Führung. Natürlich wurden die Sinne erweitert, wenngleich die riesige Anlage und der phantastische Panoramablick schon fast eine berauschende Wirkung hatten. Auf der südlichen Festungsmauer veranstalteten sie ihr Picknick, das in eine Diskussion um Politik, Macht und Krieg mündete.
Andreas war Anarchist, und er schlug ebendiese Lösung als Alternative zur Diktatur vor. Damit stand er allerdings fast allein da, nur Monika hing an seinen Lippen. Manchmal setzt die Überzeugungskraft einer Idee die Überzeugungskraft ihres Überbringers voraus, und diesen Überbringer einer politischen Vision fand sie sehr überzeugend. Monika hatte sich Hals über Kopf in einen 24-jährigen Anarchisten aus Kanada verliebt.
Sandy schlug vor, noch ein bisschen Musik zu machen. Er fand den Ort ideal. Sie spielten „In the summertime" und „Let it be", dann sangen sie ihr neuestes Stück. „House of the rising sun" war zwar schon ein paar Jahre alt, aber gerade in einer neuen, rockigeren Version in den Charts. In der Hitze des Nachmittags tanzten die jungen Leute aus vier Kontinenten: Europa, Australien, Amerika und England.
Gegen fünf traten sie den Rückweg an. Als der Eingang in ihr Blickfeld kam, wurde es Tom mulmig. Neben dem Ticketverkäufer standen zwei Männer in Zivil, hinter denen ein weißer Ford parkte. Bis hier oben leuchtete ihre Stirn grünlich. POLIZEI.
DU LIEST GERADE
Die richtigen Leute Band 2: Die Insel der Schreie
Teen FictionEin Jahr ist vergangen, seit Tom in Griechenland Menschen kennenlernte, die zugleich Opfer und Widerstandskämpfer der Militärdiktatur waren, seit er von der Geheimpolizei verhört und bedroht wurde, seit er neue Freunde fand und seit er Sophia ein Ve...