Mit dem ersten Sonnenstrahl weckte Phil seine beiden Nachbarn.
„Na, immer noch so verklemmt, oder wollen wir jetzt vielleicht doch mal ein bisschen Spaß haben?"
Nikos setzte eine ernste Miene auf, und er meinte es auch so:
„Philipos, Du hast letzte Nacht übertrieben. Wir hätten Dich nicht so viel loben sollen. Tut mir leid, ich muss es so offen sagen, ich bin enttäuscht."
„Okay, ich hab's verstanden," sagte der Junge kleinlaut.
Tom war nicht sicher:
„Phil, Du musst lernen, wo der Spaß aufhört. Und jetzt vergessen wir alle drei, was in dieser Nacht passiert ist, oder fast passiert wäre."
„Ich hab's kapiert, ehrlich."
Sandy sah, wie Nikos, Tom und Phil aus den Dünen kamen. Während Phil zu den Zelten ging, setzten sich Tom und Nikos auf den ersten Sandhügel oberhalb des Strandes. Sie betrachteten Stelios, wie er an dem Bootsanhänger werkelte, und dachten beide dasselbe, wie so oft. Es hatte etwas mit älteren Brüdern zu tun. Tom sinnierte halblaut:
„Und wer bringt sowas dem ältesten Bruder bei?"
„Gute Frage," meine Nikos, „aber wir können's ja auch von alleine."
Der Lagerabbau war Routine. Manos' Freunde fuhren nach Hause, und alle anderen machten sich nach Marmaris auf. Gegen neun Uhr waren sie in Rafina. Der Admiral beobachtete die herzzerreißende Abschiedsszene, es gab eine Menge Tränen. Er sah, wie Tom und Phil sich lange umarmten, aber er hörte glücklicherweise nicht, wie Tom flüsterte:
„Pass gut auf Dich auf, Bruder, und übertreib's nicht," und wie der zurückflüsterte, „Ich hab ja Dora und Maria zum Trost, aber nächstes Jahr, wenn Ihr dann noch wollt..."
Laut sagte er:
„Mach's gut, Bruder. Du hast ein schönes blaues Auge."
Tom erwiderte:
„Mach's auch gut, Bruder. Die dicke Lippe steht Dir auch ganz gut. Ist doch schön. So haben wir beide ein Andenken."
Er küsste ihn auf beide Wangen.
Dave verabschiedete sich angesichts des uniformierten Aufsichtspersonals sehr gesittet von Anna. Den inoffiziellen Teil hatten sie schon in den Dünen hinter sich gebracht. Jürgen hielt es mit Helena genauso. Als Tom merkte, wie seine Augen doch noch wässrig wurden, drängte er zum Aufbruch.
Die Australier brachten ihn, Dave, Martin und Jürgen zum Flughafen. Nikos, Xenia und Georgios waren natürlich auch dabei. Die Flieger nach London, Frankfurt und Düsseldorf gingen alle zwischen ein und zwei Uhr, und so hatten sie am Flughafen noch eine gute Stunde Zeit. Sie ließen sich vor der Abflughalle nieder und hatten sich immer noch viel zu erzählen.
Tom setzte sich mit Sophia, die rechtzeitig eingetroffen war, wie auch Martin mit Xenia etwas von den anderen ab. Er hatte noch eine Überraschung für seine Freundin, einen Anhänger in Form eines kleinen Marmorkreuzes an einer dünnen Lederschnur. Er legte sie Sophia um den Hals und verknotete das Lederband hinter ihrem Nacken. Die restliche Zeit verbrachten sie mit einem langen Kuss, der angesichts der Tatsache, dass Toms Bart tagelang ungestört sprießen konnte, Kratzspuren rund um ihren Mund hinterließ. Martin und Xenia gingen einer ähnlichen Beschäftigung nach, und keiner bemerkte den rothaarigen jungen Mann, der sie aus zwanzig Metern Entfernung verstohlen musterte.
Vor dem Departure Gate mussten sie sich dann endgültig trennen. Die Reisenden verabschiedeten sich von Randy, Rudy, Manny und Manos. Tom umarmte Georgios und trug ihm auf, immer gut auf seine Schwester aufzupassen. Die musste sich nun mit einem zärtlichen Kuss zufriedengeben. Sandy sagte zu Tom:
„Ich bin froh, Dich zu kennen. Wann immer Du hierher kommst, unsere Tür steht Dir offen."
Tom umarmte ihn und küsste ihn auf den Mund. Manos murrte leise. Dann begrub Nikos seinen Freund in seinen Armen. Die anderen sahen, wie beide anfingen zu weinen, und entfernten sich taktvoll.
Sandy und Manos fuhren Sophia und Georgios nach Piräus, Sandy hatte darauf bestanden. Er hatte Sophia beobachtet, als Nikos und Tom weinten. Sie ließ sich keinerlei Regung anmerken. Nach einigen schweigsamen Minuten sagte er zu ihr leise genug, dass Georgios ihn nicht verstehen konnte:
„Du weißt schon, dass Tom Dich wirklich liebt?"
Sophia antwortete ihm sehr entschlossen:
„Natürlich weiß ich das, und ich liebe ihn genauso. Oder meinst Du, sonst würde ich wieder ein Jahr auf ihn warten?"
„Sophia," sagte Sandy mit ehrlicher Bewunderung, „Du bist eine starke Frau."
„Ich weiß." Sie lächelte ihn an. „So stark, dass ich manchmal zwei Männer brauche."
Martin und Jürgen mussten als Erste durch die Passkontrolle. Tom und Nikos steckten beide an, und nach tränenreichen Umarmungen und Beteuerungen, in engstem Kontakt zu bleiben, gingen sie durch die Schleuse. Nikos, Tom und Dave hatten noch Zeit für einen Kaffee. Sie warteten, bis Toms Flug zum zweiten Mal aufgerufen wurde.
„Geh jetzt besser, Tom, sonst musst Du hierbleiben. Bitte vergiss mich nicht."
„Nikos, wir sehen uns, jeden Tag, ich verspreche es Dir. Danke, dass es Dich gibt. Und vergiss mich auch nicht."
Dave umarmte Nikos und ging mit Tom durch die Kontrolle. Ihre Warteräume lagen nebeneinander, und so blieben ihnen noch ein paar gemeinsame Minuten.
„Tom, danke, dass Du mich heiß auf Griechenland gemacht hast." Er umarmte und küsste ihn, dann ging er als einer der letzten in die Wartehalle. In der Ecke saß der rothaarige junge Mann und sah sich Dave genau an.
Nikos fuhr auf seinem Moped nach Agios Andreas, die Strecke war kurz. Noch bevor Toms Flugzeug in der Luft war, traf er auf der Terrasse Bernd und Aris, besser gesagt Dimitrios und Andreas. Bernd sah ihm an, wie er sich fühlte.
„Lasst uns runter an den Strand gehen," schlug er vor. Sie setzten sich an den Betonklotz. Bernd legte seinen Arm um Nikos, er hatte von Phil gelernt:
„Heul Dich aus, Nikos, aber denk dran, Dein Freund kommt wieder."
Martin und Jürgen waren seit einer halben Stunde über den Wolken. Martin sagte:
„Ich hab meine Gitarre bei Xenia gelassen, stell Dir mal vor, ich habe schon ein Möbelstück bei meiner Verlobten."
„Ja, Du warst schneller als ich. Aber Helena liebt mich auch. Sag mal, kannst Du mir Gitarre spielen beibringen?"
„Sicher, das soll ja gut ankommen bei den Frauen."
Toms Magen fühlte sich an, als sei darin ein großes Vakuum. Am liebsten hätte er die Stewardess um einen Fallschirm gebeten. Er rechnete im Kopf durch, wie viele Tage es bis zu den nächsten Sommerferien waren. Es waren nur 298, denn im nächsten Jahr würden die Ferien schon Anfang Juli beginnen. Er hatte eine Zahl über 320 erwartet. Tom freute sich.
Dave sah aus dem Fenster. Die Akropolis thronte über dem Häusermeer. Er würde in der Schule alles geben, nahm er sich vor, und er würde in einem Jahr wieder hier sein.
„Hi, Dave, I'm Eric, how are you?"
Der junge rothaarige Mann neben ihm riss ihn aus seinen Gedanken.
„Hi, Eric, how are you," antwortete er mechanisch, und dann lief es ihm eiskalt den Rücken herunter.
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Die richtigen Leute Band 2: Die Insel der Schreie
Teen FictionEin Jahr ist vergangen, seit Tom in Griechenland Menschen kennenlernte, die zugleich Opfer und Widerstandskämpfer der Militärdiktatur waren, seit er von der Geheimpolizei verhört und bedroht wurde, seit er neue Freunde fand und seit er Sophia ein Ve...