65 Kleine Geste

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Er glaubt er könnte mir ein paar entschuldigende Worte zu werfen und alles wäre so wie vorher, alles wäre vergeben und vergessen. Auch wenn ich oft naiv bin und zu schnell nachgebe: Diesmal nicht. Wenn Leandro will, dass ich ihm erneut vergebe, muss er sich schon etwas mehr bemühen. Ein bisschen Stolz besitze ich nämlich auch und würde ich ihm sofort verzeihen, wäre dieser weg.

Ich lasse die Szene nochmal revue passieren. Es hätte noch gefehlt, dass er bettelnd auf die Knie gegangen wäre. Ha! Das hätte die Szene perfekt gemacht. Aber er ist Leandro Martinez. Und ein Leandro Martinez geht nicht auf die Knie. Schon gar nicht vor einer Frau. *Augenverdrehen*

Nur zu gerne hätte ich sein Gesicht gesehen, als ich einfach wortlos an ihm vorbeigegangen bin. Bestimmt habe ich seinen Stolz damit ziemlich gekränkt. Aber das ist nur gerecht, wenn ich bedenke, was er meinem Stolz alles angetan hat.

Da er ja so freundlich ist und mir sein Zimmer überlässt und dafür im Gästezimmer bleibt, ziehe ich mich darein zurück. Die Tür schließe ich trotzdem ab. Nur für den Fall der Fälle.

Mein Handy liegt noch auf dem Bett und ich bin froh, dass er es mir nicht wieder abgenommen hat und ich es diesmal nutzen kann, wann ich will.

Ich darf nicht allein das Gelände verlassen, aber ein Handy zu besitzen mit allen Kontakten und Rufnummern der Polizei ist in Ordnung. Entweder hat er doch etwas mehr Vertrauen in mich, als er zugibt oder er fühlt sich einfach zu sicher. Wie auch immer. Ich habe sowieso nicht vor die Polizei zu informieren oder ihn doch noch Anzuzeigen. Vielleicht sollte ich es tun, aber ich kann nicht. Ich bin jetzt solange hier und habe nicht nur ihn mehr kennengelernt, sondern auch Ela, Jamila und selbst Pablo. Alle sind mir irgendwo ans Herz gewachsen, vor allem Ela und Jamila. Und jetzt wo ich weiß, dass sie gerne hier ist, könnte ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn sie hier weg gerissen wird. Denn offensichtlich fühlt sie sich wohl. Die Sache ist also etwas verzwickter als angenommen.

Und was ich will? Ich weiß es noch immer nicht. Auf der einen Seite möchte ich raus, mein Leben weiter leben, vielleicht wieder arbeiten, wenn meine Auszeit vorbei ist. Aber durch die Schwangerschaft ist alles nur noch verzwickter geworden. Meine Hormone spielen verrückt und in der einen Sekunde vermisse ich Leandro wahnsinnig, sehne mich nach Nähe und in der anderen möchte ich ihn und alles hier verlassen und nie mehr wieder kommen. Aber Hey, immerhin muss ich nicht mehr jeden Tag kotzen!

Ohne nachzudenken wähle ich Lucias Nummer. Wir haben jetzt ein paar Tage nicht gesprochen und ich vermisse sie wahnsinnig. Von meinem Sturz und dem Vorfall weiß sie noch immer nichts. Noch so eine Sache, in der ich hin und hergerissen bin. Erzähle ich es ihr oder besser nicht? Fragen über Fragen.

,,Hey Katy! Na endlich! Ich dachte schon du meldest dich gar nicht mehr, ich habe ein paar Mal versucht dich anzurufen" Ihre Stimme klingt keineswegs vorwurfsvoll und trotzdem bekomme ich prompt ein schlechtes Gewissen.

,,Tut mir leid, Lu... Ich brauchte eine kleine Auszeit... Du weißt schon die Schwangerschaft macht mir noch immer etwas zu schaffen"

,,Verstehe... Wann erfahren wir das Geschlecht?" Jetzt quiekt sie aufgeregt, was mich zum Lachen bringt.

,,Ein bisschen wird es mit Sicherheit noch dauern. Ich möchte mir ganz sicher sein, wenn ich es erfahre und am Anfang kann die Ärztin sich leichter mal noch vergucken. Deshalb warten wir noch ein wenig ab"

,,Ja ergibt Sinn... Ich bin schon ganz aufgeregt! Ich werde Tante! Ist das zu fassen?! 10 Jahre weg und kaum bin ich zurück, passiert sowas. Unglaublich!"

Ich beneide Lucia für ihre lockere Art. Während mir die ganze Entführungsgeschichte noch immer zu schaffen macht, steckt sie das alles locker flockig weg. Und im Vergleich zu ihr, war ich nur eine kurze Zeit gefangen. Sie hingegen Jahre.

Dunkles Vertrauen - Kein Weg zurückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt