1 ◉ Tia ◉ Etwas zum Träumen

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»Nein. Nie im Leben.«

Viel zu schwungvoll stelle ich das Glas ab, das ich gerade an meine Lippen führen wollte. Mit einem ungewöhnlich lauten Knall landet es auf Rhondas monströsem Schreibtisch und ich zucke erschrocken zusammen, während sich mein Blick nicht eine Sekunde von ihr löst und ich sie mit großen Augen anstarre.

Keine Ahnung, woher ich den Mut genommen habe, meine Meinung so laut und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Für einen kurzen Moment zeichnet sich Überraschung in ihrer Miene ab, bevor sie ihr künstliches, übertrieben breites Lächeln auflegt und sich in ihrem Sessel zurücklehnt.

Ich ziehe verärgert die Augenbrauen zusammen und bewege langsam den Kopf hin und her. Kaum zu glauben, dass sie mir ernsthaft so einen Vorschlag macht! Mit verkniffenen Lippen fummle ich mein Smartphone aus dem zu kleinen Gucci-Täschchen. Mein Fingerabdruck entsperrt es, ich rufe die Playlist auf und spiele einen Song ab. Den Song.

Slept with ugliest guys to get the job
Yeah, sleeping her way to the top
pop starlet Cynthia
no talent - no style
can be mean as fu...

Bevor das böse Wort ertönt, beendet mein Zeigefinger hektisch den elendigen Schund.

»Tia, was soll das? Glaubst du wirklich, ich kenne diesen Song nicht in- und auswendig? Dann wäre ich wohl eine schlechte Managerin. Es ist wichtig, alles über seine Feinde zu wissen, aber es ist noch besser, sie zu seinen Verbündeten zu machen, wenn sich die Möglichkeit dazu ergibt. Wir haben jetzt diese Chance, also müssen wir sie auch nutzen.«

Ich seufze leise.

»Aber dieser Typ verbreitet furchtbare Lügen und Unverschämtheiten über mich. Ganz abgesehen davon möchte ich auf keinen Fall mit jemandem eine Scheinbeziehung führen, zuallerletzt mit ihm. Ich kann ihn nicht ausstehen. Und die ganze Geschichte wäre ein einziger, großer Betrug.«

Leider hat sich in der Zwischenzeit meine der Entrüstung entsprungene Furchtlosigkeit wieder ins Nichts verflüchtigt. Wie gerne hätte ich meinen Worten einen energischeren Klang verliehen, doch selbst mir ist klar, dass meine Stimme viel zu schwach und leise war, um meinen Standpunkt zu verdeutlichen.

Rhonda zieht auch schon vollkommen unbeeindruckt eine perfekt in Form gezupfte Augenbraue nach oben. Auf ihre höchst elegante Weise zuckt sie mit den Schultern. »Glaub' mir Tia, die Leute wollen betrogen werden. In unserem Business darf man keine Skrupel haben, sonst ist man schneller weg vom Fenster, als man 'Piep' sagen kann. Denkst du ernsthaft, dass alles immer stimmt, was die Medien verbreiten? So naiv kannst selbst du nicht sein. Aufmerksamkeit zu bekommen ist das A und O. Koste es, was es wolle. Ob es gute oder schlechte Publicity ist, ist dabei erst mal zweitrangig.«

»Aber ich kann doch nicht ...«

»Hör zu, die Sache ist die: Seitdem dieser Rap des guten ShawLaw draußen ist, ist das Interesse an dir sprunghaft angestiegen. Er ist zwar längst nicht mehr der Star, der er mal war, aber die Menschen interessiert offenbar immer noch, was er so von sich gibt. Die Download- und Streamingzahlen für deine Songs haben sich stark erhöht, genauso wie die Anzahl deiner Follower.«

Frustriert stoße ich hörbar die Luft aus. Wie immer wischt sie meinen schüchtern vorgebrachten Einwand mit ihrem 'All-time-favourite-Totschlagargument' beiseite. Den Zahlen.

Sie erhebt sich aus ihrem dick gepolsterten, schwarzen Lederchefsessel und streicht sich den dunkelgrauen Bleistiftrock glatt. Die türkisgrüne, enganliegende Bluse passt perfekt zu ihren Augen. Kaum jemand weiß, dass sie getönte Kontaktlinsen trägt, um diese ungewöhnliche Farbe zu erzielen. Auch ihre von Natur aus mittelbraunen Haare leuchten nur deshalb in einem strahlenden Hellblond, weil sie in regelmäßigen, sehr kurzen Abständen ihren Zauberer von einem Friseur aufsucht. Ihr richtiger Name lautet Mary und nicht Rhonda, doch der war ihr zu gewöhnlich. Alles an ihr ist mehr Schein als Sein.

Verflixter Rapper!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt