57 ◉ Wy ◉ Knallharte Wahrheit

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Einen Moment lang starrt Tia nachdenklich ins Leere und schweigt, als müsse sie diese Worte erst einmal verarbeiten.

»Deine Mom hat euch verlassen?«

»Ja. Na ja, die ersten Monate ist sie noch regelmäßig vorbei gekommen und hat uns Geld dagelassen. Beim letzten Mal hat sie mir an der Wohnungstür gesagt, dass sie das nicht mehr machen kann, weil ihr neuer Typ nicht will, dass sie ständig in der Wohnung ihres Ex rumhängt. Es wäre auch immer ein ziemlich weiter Weg, weil sie jetzt in einem ganz anderen Stadtteil wohnt. Dafür hätte er ihr aber versprochen, die Miete für uns zu übernehmen. Als wäre das ein Ersatz ...«

»Ist es nicht. Dass man jemanden im Stich lässt, kann man nicht durch Geld wieder gut machen«, sagt sie mit nachdenklichem Blick und ich weiß genau, dass sie das hundertprozentig nachvollziehen kann.

»Nein, kann man nicht. Zum Abschied hat sie mir noch gesagt, dass ich jetzt für meine kleinen Geschwister verantwortlich bin und gut auf sie aufpassen soll.«

Sie zieht die Brauen zusammen und schüttelt den Kopf. »Wie konnte sie dir die ganze Verantwortung aufhalsen? Wie konnte sie euch einfach allein lassen?« 

»Sie hat einfach ein besseres Leben mit Geld und Sicherheit über ihre Kinder gestellt. Vielleicht hat sie es irgendwann bereut, aber wenn eine gewisse Zeit vergangen ist, wird der Weg zurück immer schwieriger. Da verdrängt man lieber.«

Fuck. Vielleicht bin ich ihr doch nicht so unähnlich, wie ich immer dachte.

»Was ist dann aus euch geworden? Ohne eine Mom und ohne Geld?« Tias leise Frage durchbricht meine Grübeleien. Ich muss mich zusammenreißen und darf meine Gedanken nicht jetzt schon abdriften lassen, sonst halte ich das nicht durch. Wir stehen noch ganz am Anfang.

»Rosa hat uns oft Essen gebracht und Trev hat mir ab und zu Geld zugesteckt. Ohne die beiden wäre es uns noch viel schlechter gegangen. Aber so viel hatten sie auch nicht, um eine vierköpfige Familie auf Dauer durchfüttern zu können.«

»Was war mit deinem Dad?«

»Der saß auf dem Sofa, hat getrunken und irgendwelche Talkshows geguckt. Solange er seinen Schnaps und ab und zu was zu essen hatte, ging ihm alles am Arsch vorbei.«

»Aber irgendwann ging das Geld doch aus. Und sein Alkohol.«

»Na ja, man sorgte besser dafür, dass er seinen Pegel hatte. Dann saß er friedlich da und hat sich irgendeinen Mist angesehen. Wenn er seinen Alk nicht hatte, konnte er ... ziemlich ungemütlich werden.« Für einen Moment schließe ich die Augen, doch sofort taucht ein Bild in meinem Kopf auf, das ich eigentlich nie wieder sehen wollte. »Fuck, ich sehe ihn noch genau vor mir, wie er mit knallrotem Gesicht dasteht und so laut Wyatt brüllt, dass man es noch drei Blocks weiter hören kann. Er war immer der Einzige, der mich so genannt hat. Weckt noch heute beschissene Erinnerungen, wenn mich einer so nennt.«

Als ich die Augen wieder öffne, blicke ich in ein entsetztes Gesicht. »Hat er ... dir wehgetan?«

»Nur ein Mal. Als er es das zweite Mal versucht hat, habe ich ihm wehgetan. Ich war kein kleines Kind mehr, das hat er wohl irgendwie nicht mitgekriegt. Danach hat er mich in Ruhe gelassen. Dafür hat er mich aber ständig beschimpft und mir gepredigt, was für ein elender Versager ich bin. Und dass Mom nur wegen mir gegangen wäre. Ich weiß nicht, wie er darauf gekommen ist, aber wenn man etwas immer und immer wieder hört, dann schlägt es irgendwie Wurzeln in einem und wächst und wächst. Völlig egal, wie absurd es ist.«

»Ja, ich weiß.« Ich lese das tiefe Verständnis für meine Worte in ihrem Blick. Bei all den Unterschieden haben wir doch erstaunlich viele ähnliche Erfahrungen gemacht.

Verflixter Rapper!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt