29 ◉ Tia ◉ Erfroren

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Ich stolpere mehr in mein Zimmer, als dass ich hineingehe. Meine Beine gehorchen mir nicht richtig, sie sind schwer und ungelenk.

Schon oft in meinem Leben habe ich geglaubt, den Tiefpunkt erreicht zu haben, und jedes Mal wurde ich eines Besseren belehrt. Nur ist diesmal die Fallhöhe viel größer, weil ich die Hoffnung zugelassen habe. Dieses verflixte Gefühl, das den Verstand außer Betrieb setzt und mich bisher immer enttäuscht hat. Danach habe ich es zwar jedes Mal noch tiefer in mir vergraben, aber es hat sich trotzdem immer wieder hartnäckig an die Oberfläche gekämpft.

Hals über Kopf habe ich mich in einen schönen Traum geflüchtet, in der dummen Hoffnung, er könnte wahr werden. Dabei wusste ich genau, dass alles nur Schein war. Ein Schauspiel. Ein Betrug. Es war von Anfang an nicht echt. Nichts davon. Was schon so verkorkst beginnt, kann einfach nicht gut enden. Wie naiv muss man sein, um darauf zu hoffen?

Wut und Trauer pulsieren wie Gift durch meine Adern und töten all die guten Gefühle, die sich in letzter Zeit in mir entwickelt und meine Seele aufgetaut haben.

Jetzt ist alles wieder kalt. Die Welt um mich herum ist gefroren. Und ich mit ihr.

Das Einzige, was ich noch will, ist, mich ins Bett zu werfen und unter der Decke vor all dem zu verkriechen, was ich gerade erfahren habe.

Irgendwann werde ich mich damit auseinandersetzen müssen. Irgendwann muss ich mich aufraffen und wieder funktionieren. Aber nicht heute. Morgen vielleicht.

Ich weiß nicht, wie lange ich kalt und gefühllos dagelegen habe, als mich ein hartnäckiges, lautes Klopfen aus meiner Erstarrung reißt.

»Verdammt, Tia! Zum letzten Mal! Mach die Tür auf oder ich schwöre, ich schlage sie ein!« Wys Stimme bebt. Ob vor Zorn oder Enttäuschung, das weiß ich nicht. Vermutlich hat er sich den Sonntag anders vorgestellt. Tja, da ist er nicht der Einzige.

Es kostet viel Kraft, meinen schweren Körper aus dem Bett zu hieven. Meine Gliedmaßen fühlen sich an, als wären sie aus Granit, steif und schwer. Wie eine alte Frau schlurfe ich zur Tür, lege beide Hände auf das kalte, weiß lackierte Holz. Trotz allem zieht es mich zu ihm hin. Der Traum war so schön. Ich wünschte, er hätte noch etwas länger angedauert.

»Du musst dir wohl eine Prostituierte rufen, Wy. Ich werde nicht mehr in dein Zimmer kommen. Aber das sollte ja kein Problem sein, du hast doch die Nummer von diesem Mann, der dir alles besorgen kann.«

Einen Moment lang herrscht Stille und ich frage mich, ob er meine leisen Worte überhaupt hören konnte.

»Fuck, Tia. Kaum habe ich dir verraten, dass ich bei dir keine Wut fühle, schon machst du mich wütender, als ich es seit langer Zeit gewesen bin! Was zum Teufel ist plötzlich los mit dir? Bist du verdammt nochmal verrückt geworden?!«

Scharf ziehe ich die Luft ein, weil ein stechender Schmerz mein Inneres durchzuckt. Mein Atem geht schwer. 

Verrückt! Wie die Mutter, so die Tochter, das hat sie mir oft genug vorhergesagt. Meine Angst davor ist bodenlos. Ich habe es mit angesehen, hautnah erlebt, was es aus ihr gemacht hat. Ich würde es nicht ertragen, wenn mir das Gleiche passieren würde.

Mein Kopf ist viel zu schwer, um ihn oben zu halten, und ich lehne meine Stirn gegen die Tür. »Bitte nicht. Nicht das«, hauche ich verzweifelt. Meine Stimme klingt seltsam gedämpft und verzerrt, weil ich gegen das Holz spreche. Ich schmecke salzige Tränen auf meinen Lippen ohne überhaupt gemerkt zu haben, dass ich weine.

»Was hat die Hexe zu dir gesagt, Tia?«, dringt es von draußen zu mir durch.

Seine Stimme klingt jetzt ruhiger. Beruhigend beinahe. Dabei muss er mich gar nicht beruhigen. Alles in mir ist eiskalt und seltsam betäubt, nur der salzige Geschmack auf meiner Zunge verrät mir, dass doch noch ein bisschen Gefühl in mir steckt.

Verflixter Rapper!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt