10 ◉Tia ◉ Die Verabredung

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Abwesend, seinen Kopf in die rechte Hand gestützt, starrt Wy auf das Glas mit der roten, dickflüssigen Masse, das ich ihm vor ein paar Minuten hingestellt habe. Meines ist bereits leer.

Wir sitzen uns an dem großen, dunkelbraunen Tisch im Esszimmer gegenüber. Die bunten Blumen aus dem Garten, die ich gestern auf Anweisung von Rosa gepflückt, in einer Vase arrangiert und dann hier aufgestellt habe, verströmen einen wundervollen Geruch. Dummerweise duftet sein Aftershave noch intensiver. Immer wieder erwischt mich eine Welle davon und benebelt meine Sinne. Dieser Rapper sollte nicht so gut riechen. Das ist absolut kontraproduktiv, weil meine Gedanken sich sowieso schon im Kreis drehen. 

Versonnen beiße ich auf meiner Unterlippe herum. Es ist befreiend, das jederzeit tun zu können. Normalerweise geht das nicht, weil sie es hasst. Der Gedanke, irgendwann wieder zurück zu müssen, lässt sich meinen Magen schmerzhaft zusammenziehen, denn jeden Tag fühle ich mich wohler hier. Rosa ist schon in kurzer Zeit fast so etwas wie eine Freundin für mich geworden und Wy habe ich in den letzten Tagen kein einziges Mal gesehen. Offenbar hat er also doch nicht vor, mir das Leben hier zur Hölle zu machen, sondern lässt mich einfach in Ruhe. Er ist auch längst nicht mehr so furchterregend wie am Anfang, denn dass Rosa ständig so gut über ihn spricht, hat mich einen großen Teil meiner Angst verlieren lassen.

Auch jetzt macht er keinen aggressiven Eindruck. Eher einen nachdenklichen, müden und absolut handzahmen. Kein Wunder. Die Spuren der durchgemachten Nacht prägen sein Gesicht. Dunkle Schatten liegen unter seinen Augen und seine Haare sind verwuschelt. Der blaugraue Hoodie, den er trägt, ist am Halsausschnitt ein Stück weit eingerissen und kurz frage ich mich, ob ihn wohl jemand am Kragen gepackt hat.

Stopp, Tia. Das geht dich gar nichts an.

Die Gelegenheit ist auf jeden Fall günstig. Wer weiß, ob ich nochmal so eine bekomme? Ich muss sie unbedingt nutzen. Die Frage ist nur, wie ich es anstellen soll? Vielleicht wäre es gut, ihn zunächst ins Hier und Jetzt zurückzuholen?

Im Gespräche beginnen bin ich eine komplette Niete, doch im Moment spüre ich einen ungewohnten Wagemut in mir. Möglicherweise spielt dieser ekelhafte, braune Schnaps dabei eine gewisse Rolle, der in meinem Blut kursiert und die Show-Seite in mir hervorlockt, ohne dass ich auf der Bühne stehe. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Augen zu und durch.

»Willst du nicht probieren?« Zu schnell, zu leise und wirklich wahnsinnig einfallsreich, Tia. Aber immerhin ein Anfang.

Er blinzelt und sieht mich mit fragend gehobenen Brauen an. Kein Wunder, dass er mein kaum hörbares Genuschel nicht verstanden hat. Mit dem Zeigefinger deute ich auf sein bis zum Rand gefülltes Glas. Er runzelt skeptisch seine Stirn, doch dann greift er danach und trinkt. Meine Augen werden immer größer, als er es tatsächlich schafft, alles in einem Zug zu leeren.

Vermutlich hat mein Blick ihm deutlich gezeigt, wie erstaunt ich bin, denn als er das Glas absetzt, bildet sich ein triumphierendes Grinsen in seinem Gesicht. Für einen Moment sieht er durch den dunkelroten Saft auf seinen Lippen aus wie ein Vampir. Ein äußerst gutaussehender Vampir. Aber das sind Vampire ja immer – und wenn man nicht aufpasst und sich davon blenden lässt, killen sie einen ohne mit der Wimper zu zucken. Ich schlucke trocken, als er sich die Reste ableckt.

»Tja, Jägermeister ist es nicht, aber erstaunlicherweise kann man es trinken. Und ich musste nicht mal husten.« Er zwinkert mir zu und es kommt mir fast vor, als hätte er plötzlich gute Laune.

Alles klar, Tia. Das musst du nutzen. Jetzt oder nie.

Ich knete die feuchten Hände in meinem Schoß und starre lieber die Maserung der massiven Tischplatte an, als ich mich traue, das anzusprechen, was mir die letzten Tage zu schaffen gemacht hat.

Verflixter Rapper!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt