61 ◉ Tia ◉ Chaos

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»Du hast es ihm versprochen. Du hast ihm versprochen, mich aufzugeben.«

Ich schließe für einen Moment die Augen, lasse die Erkenntnis auf mich wirken. Nie hätte ich mit so etwas gerechnet. Mit dieser völlig verkorksten Geschichte zwischen Wy und seinem Bruder, die in einer so grausamen Forderung gegipfelt ist. Und darin, dass Wy darauf eingegangen ist. Wir waren so glücklich und er hat uns einfach weggeworfen.

Sein Verhalten nach dieser Nacht im Strandhaus ergibt plötzlich einen Sinn. Tagsüber konnte er es verdrängen, sich ablenken. Nachts hat es ihn eingeholt.

Als ich meinen Blick wieder auf ihn richte, nickt er nur. Worte sind auch nicht nötig.

Die Gedanken in meinem Kopf wirbeln so chaotisch durcheinander, dass ich Abstand brauche, um wenigstens ein bisschen Ordnung zu schaffen. Mit meinen Gefühlen ist es ähnlich. Es sind zu viele, als dass ich sie einfach entwirren könnte. Ich stehe auf und gehe zum Geländer, klammere mich mit beiden Händen an den Handlauf, weil ich spüre, dass ich diesen Halt jetzt brauche. Mein Blick schweift über die nächtlichen Lichter der Stadt, doch ich nehme ihre Schönheit kaum wahr. Es dauert nicht lange, und er tritt hinter mich. Ich spüre seine Nähe, ohne ihn gehört zu haben.

»Tia?«

Tief ziehe ich die Luft ein. Ich weiß, dass er irgendeine Antwort braucht, also spreche ich einfach aus, was mir gerade im Kopf herumschwirrt.

»Weißt du, all die Dinge, die du mir erzählt hast, all die Dinge, die du getan hast, bevor wir uns getroffen haben, mit all diesen Dingen kann ich leben, denke ich. Ich kann nicht sagen, ob ich genauso gehandelt hätte, aber ich kann verstehen, wie du gehandelt hast. Alles. Auch das mit diesen Frauen... Ich verstehe deine Gründe und du warst so jung, es war viel zu viel Verantwortung. Wenn ich das Geld so dringend gebraucht hätte wie du, dann ... Ich hätte wahrscheinlich auch so ziemlich alles dafür getan.«

Ich meine, ein leises Aufatmen zu hören. Aber ich habe noch nicht alles gesagt. Noch lange nicht. Ich drehe mich um und schaue ihn an. Er soll den Schmerz und die Enttäuschung ruhig sehen, die sich in meinen Augen spiegeln.

»Aber dass du mir dann fast zwei Monate lang was vorgemacht hast, obwohl du schon wusstest, dass du mich wegschicken wirst. Und dass du das dann eiskalt durchgezogen hast ... Dass du mich im Stich gelassen hast, als ich völlig hilflos war, obwohl du mir versprochen hattest, das nicht zu tun. Dass ich es dir nicht einmal wert war, mir alles zu erklären, so wie du es heute getan hast ... Das ... tut wirklich weh. Es hat mich zerrissen, dass du mich abgeschoben hast. Genau so, wie es immer alle getan haben. Und das nur, um dich selbst besser zu fühlen. Du wusstest, dass das mein wunder Punkt ist. Du hast uns deinen Schuldgefühlen geopfert, Wy.«

Er nickt langsam, senkt den Blick zu Boden.

»Ich weiß. Alles, was Jesse mir an diesem Tag gesagt hat, hat mir nochmal klargemacht, was ich die ganze Zeit über mich selbst gedacht habe. Dich zu verlieren kam mir plötzlich wie eine Strafe vor, die ich verdient hatte.«

»Es ging nicht nur um dich. Hatte ich auch eine Strafe verdient?«, zische ich ihm entgegen.

Er reißt die Augen auf und sieht mich an, mit einem entsetzten Ausdruck auf seinem Gesicht.

»Du hast nichts falsch gemacht, Tia. Überhaupt nichts ... Du hast mit allem recht.«

»Warum hast du mir nicht gesagt, warum du es tust? Als du mit mir Schluss gemacht hast? Das wäre wichtig für mich gewesen! Dann hätte ich wenigstens gewusst, dass es nicht an mir liegt.«

Meine Lippen zittern, meine Stimme bebt. Es ist mir nicht einmal peinlich. Er kann ruhig sehen, wie sehr er mich getroffen hat. Mit beiden Händen fährt er sich über das Gesicht, bevor er mir entschlossen in die Augen sieht.

Verflixter Rapper!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt