46 ◉ Tia ◉ (K)Eine dumme Idee

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Erleichtert atme ich auf, als ich die klimatisierte Wohnung betrete. Ich bin völlig verschwitzt und spüre jeden Muskel in meinen Beinen und Armen. Andrew, mein neuer Choreograph ist der anspruchsvollste, den ich jemals hatte. Wir pushen uns gegenseitig zu immer gewagteren und riskanteren Hebefiguren, zu immer schnelleren und anstrengenderen Bewegungsabläufen. Er treibt mich und die anderen Tänzer zu Höchstleistungen an, in jedem Training gehen wir an unsere Grenzen und darüber hinaus.

Ich liebe es. Mich bis zur völligen Erschöpfung zu verausgaben, gibt mir ein Gefühl von Lebendigkeit, das ich im wirklichen Leben nicht mehr habe.

Ich schlüpfe aus meinen Sneakern und mein müder Blick bleibt an einem kleinen braunen Lederkoffer hängen, der einsam im Flur steht. Ich schlucke schwer. Ein weiterer Vorteil des intensiven Trainings ist es, dass im Kopf kein Platz mehr für andere Dinge ist. Die Bewegungsabläufe, das Timing und das gleichzeitige Singen fordern meine ganze Konzentration und lassen mich alles vergessen, was sonst als schwere Last auf meiner Seele liegt. Ich kann dann für eine Weile freier atmen.

Auch wenn es mir die ganze letzte Nacht den Schlaf geraubt hat, ist es mir deshalb den Vormittag über gelungen, erfolgreich zu verdrängen, was heute für ein Tag ist. Es ist der Freitag, an dem Carlos nach Hause kommt. Und der Freitag, an dem Rosa mich verlassen wird.

In den letzten zwei Wochen war sie neben der Musik und dem Tanzen mein einziger Lichtblick. Wir haben zusammen gekocht, gegessen, uns Komödien angesehen und auf der traumhaften Dachterrasse mit Blick auf die Skyline stundenlang über Gott und die Welt gesprochen. Irgendwann habe ich den Rat meines Therapeuten befolgt, der mir empfohlen hat, darüber zu reden, wenn es sich gut und richtig anfühlt, und ihr alles von mir erzählt. Alles das, was ich vor einer Weile auch Wy erzählt habe.

Es ihr anzuvertrauen und für eine Weile von ihr in den Armen gehalten zu werden hat erstaunlich gut getan. Mit jedem Mal fällt es mir leichter, über diese Dinge zu sprechen. 

Im Gegenzug hat sie mir davon erzählt, wie sie als Kind aus Mexiko mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder nach New York gekommen ist und sich ihr Vater und später auch ihr Bruder relativ schnell in kriminelle Machenschaften verstickt haben. Trotzdem haben sie nie richtig Boden unter die Füße bekommen, weil ihnen das Geld immer wieder sofort wie Wasser zwischen den Fingern zerronnen ist. Und sie hat mir von ihrem Carlos erzählt, wie sie sich kennengelernt, verliebt und gemeinsam ein gutes Leben aufgebaut haben und von seinem Schlaganfall, der ihn fast getötet hätte und ihn seitdem ans Bett fesselt.

Nur ein Thema haben wir in stillem Einvernehmen die ganze Zeit über völlig ausgeklammert und nicht einmal seinen Namen erwähnt. Obwohl sie mir von Anfang an zu verstehen gegeben hat, dass sie mir immer zuhören und für mich da sein würde, sobald ich bereit wäre, darüber zu reden.

Der Gedanke daran, wie sehr ich sie vermissen werde, wenn sie mich allein in dieser großen Wohnung zurücklässt, den schrecklichen Termin am Montag vor Augen, verwässert meinen Blick, der noch immer an ihrem Koffer klebt. Ich habe Angst, in ein tiefes Loch zu fallen und weiß nicht, ob ich die Kraft habe, mich alleine wieder herauszukämpfen.

»Tia, du bist schon da?«

Aus meinen Grübeleien gerissen, schaue ich auf. Wie aus dem Nichts steht mir die kleine Frau direkt gegenüber. Im Gegensatz zu ihrem üblichen Outfit aus Jeans und T-Shirt trägt sie heute ein knielanges rotes Sommerkleid mit weißem Blümchenmuster. Ein Lächeln huscht über meine Lippen, als mir bewusst wird, dass sie sich für Carlos so hübsch gemacht hat. Das Lächeln erlischt, als mein Blick auf ihre braunen Augen fällt. In ihnen liegt ein fast erschrockener Ausdruck, der mich erstaunt die Stirn runzeln lässt. Auf ihren dunklen Wangen zeigt sich eine ertappte Röte, wie ich sie noch nie bei ihr bemerkt habe.

»Ja. Andrew hat etwas früher Schluss gemacht, weil er heute noch einen wichtigen Termin hat. Warum? Bin ich zu früh?«

»No ... Es ist nur, weil ... Also, weißt du ... Santo cielo, ¿cómo se supone que voy a explicarle esto?« Sie knetet ihre Hände vor dem Körper und holt tief Luft, als müsse sie Mut für ihre nächsten Worte sammeln. Dieses Verhalten der sonst so ruhigen und selbstsicheren Rosa beunruhigt mich nicht nur ein bisschen.

»Was ist passiert?«, hauche ich atemlos und bereite mich innerlich auf die schlimmsten Hiobsbotschaften vor, während sich meine Fingernägel in die Haut meiner Handflächen graben.

»Passiert? No te preocupes, passiert ist nichts. Es ist nur ... Ich hatte heute Morgen diese Idee, und weil ich gar nicht lange darüber nachdenken und es mir nicht mehr anders überlegen wollte, habe ich es einfach sofort getan. Und jetzt ... Me pregunto si realmente fue una buena idea. Ich weiß nicht ... ob es eine gute Idee war oder vielleicht eine ganz ganz dumme.«

Ich atme inzwischen so schnell und schwer, als wäre mein Training erst vor wenigen Sekunden zu Ende gegangen. Die Gedanken jagen kreuz und quer durch meinen Kopf, so dass ich keinen richtig fassen kann, aber da ist diese eine, gigantische Vermutung am Rande meines Bewusstseins, von der ich weiß, dass sie die totgeglaubte Hoffnung wiederbeleben könnte, wenn ich ihr Raum geben würde. Weil ich es nicht ertragen könnte, diese Hoffnung noch einmal sterben zu sehen, verdränge ich meinen Verdacht energisch aus meinem Kopf und räuspere mich. Jede Zelle in mir ist angespannt, am liebsten würde ich weglaufen, aber ich wüsste nicht einmal wohin. Also muss ich mich wohl oder übel dem Unbekannten stellen, das hier auf mich wartet.

»Was war das für eine Idee?«

Sie schließt für einen Moment die Augen, bevor sie sie wieder öffnet und mir fest ins Gesicht sieht. »Mir kommt es nicht gut vor, dass du dieses Wochenende ganz allein hier bist, Chava. Nicht vor diesem Termin am Montag mit dieser fürchterlichen Frau. Ich würde so gerne hier bleiben, aber es geht nicht. Aber ich glaube, du brauchst jetzt jemanden um dich herum. Jemanden in deinem Alter. Jemanden, der versteht, wie es dir geht und der dich auf andere Gedanken bringt. Jemanden, der ein gutes Herz hat. Nur ... Ich kenne davon nicht so viele. Du musst nicht einverstanden sein, Tia. Niemand nimmt es dir übel, wenn du nicht willst. Es ist deine Entscheidung.«

»Du hast also jemanden eingeladen, damit er das Wochenende mit mir verbringt?«

»Si.«

»Wer ist es?«

Meine Frage beantwortet sich von selbst, als dieser Jemand hinter der Wand hervorkommt, die den Flur von der offenen Küche trennt.

»Hi, Tia.«


*****

Nur ein sehr kurzes Übergangskapitel, aber ich bin natürlich auf eure Tipps gespannt. Wer soll denn da mit Tia das Wochenende verbringen?

Verflixter Rapper!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt