55 ◉ Tia ◉ Das Tattoo

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Ich ziehe meine zitternde Hand unter seiner hervor und richte mich auf. Wy tut es mir nach und wir sitzen uns auf dem Bett gegenüber, während mein Blick wieder auf seine Brust fällt.

»Warum?«

Meine Frage ist so leise, dass ich nicht sicher bin, ob er sie hören kann, aber als ich den Kopf hebe und sich unsere Augen treffen, weiß ich, dass er mich verstanden hat. Seine Lippen öffnen sich, doch ein »Oh, Leute, was soll das denn werden?« von Miles lässt uns die Köpfe in Richtung des Regisseurs drehen, der sich gerade die dunklen Locken rauft. »Nur noch ein winziges bisschen Geduld, wir sind ja gleich so weit. Für die erste Einstellung wollten wir euch so liegen haben, jetzt müssen wir das noch mal ...«

Er verstummt abrupt, als Wy seine Beine aus dem Bett schiebt und aufsteht. Für einen Schreckmoment befürchte ich, dass Wy die Sache jetzt abbrechen und einfach verschwinden wird, doch dann wendet er sich zu mir um und streckt mir die Hand entgegen.

»Wir müssen kurz reden, Tia. Allein.«

Ich nicke, denn er hat recht. Es war eine sehr, sehr dumme Idee, mit all den ungeklärten Fragen und verletzten Gefühlen, die zwischen uns stehen, solche Szenen drehen zu wollen. Unbeholfen winde ich mich aus der Decke und klettere aus dem Bett, allerdings ohne seine Hand zu ergreifen. Er presst kurz die Lippen zusammen, dann greift er nach der Decke und reicht sie mir. Ich ringe mir ein dankbares Lächeln ab, als ich sie mir um den Körper wickle. Es fühlt sich besser an, Mr. Jenkins und den anderen nicht nur in winzigen Dessous gegenüber zu stehen.

»Hör zu, Miles, wir brauchen zehn Minuten für uns«, wendet sich Wy an den Regisseur. Es ist keine Frage, sondern eine Ansage, die keinen Widerspruch duldet, und ich bewundere Wy dafür, wie er es schafft, so selbstbewusst aufzutreten, während er nur in Boxershorts dasteht. Niemand reicht ihm einen Bademantel, was wahrscheinlich daran liegt, dass die dafür zuständige Assistentin nicht mehr im Studio ist.

Miles murmelt etwas Unverständliches, schüttelt leicht den Kopf und zaubert dann ein ebenso gezwungenes Lächeln auf seine Lippen wie ich gerade. »Zehn Minuten. Bitte klärt, was auch immer ihr klären müsst, damit wir nachher konstruktiv arbeiten können.«

»Okay. Kommst du?«

Wy sieht mich an, dann erstarrt er plötzlich, wahrscheinlich weil er sich genau wie ich daran erinnert, dass diese Worte schon ein paar Mal zwischen uns gefallen sind und was sich daraus ergeben hat. Langsam und gleichmäßig stößt er den Atem aus, dreht sich um und geht los. Ich raffe das Laken um meinen Körper zusammen und folge ihm.

Die Halle mit ihren Trennwänden, all den Kameras, Scheinwerfern, Stühlen, Rolltischen und Requisiten ist das reinste Labyrinth und ich bin froh, dass Wy keine Probleme damit hat, den Weg zu den Garderoben zu finden.

Er betritt eine davon und knipst das Licht an, während ich ihm folge und die Tür hinter uns schließe. Ich spüre seinen Blick auf mir, aber jetzt, wo wir allein sind, bringe ich es nicht mehr über mich, ihn anzusehen. Stattdessen hefte ich meine Augen auf die Fotos, die an der Wand hängen und wahrscheinlich Schauspieler zeigen, die hier schon gedreht haben.

Die Situation ist seltsam unwirklich. Wir stehen uns gegenüber, Wy nur mit einem Fetzen Stoff bekleidet und ich mit einem Laken um den Körper gewickelt, an das ich mich klammere, als wäre es mein letzter Halt im Leben. Ich habe das Gefühl, dass diese Nacktheit uns nur noch verletzlicher macht.

Wir wissen beide, dass das unsere letzte Chance ist. Die Chance, noch einmal eine andere Richtung einzuschlagen. Eine gemeinsame Richtung. Oder unsere Wege trennen sich nach diesem Tag endgültig. Der Druck ist lähmend, genauso wie das Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitet. Eine kleine runde Uhr neben den Fotos tickt unaufhaltsam wie ein Countdown und macht mir auf quälende Weise bewusst, dass wir nur zehn Minuten haben.

Verflixter Rapper!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt