Ihr meine dunklen Seiten zu zeigen, macht mir Angst. Ich liebe das Licht in ihren Augen, wenn sie mich ansieht. Es hilft mir, meine Dunkelheit zu ertragen. Kann sein, dass es jetzt nicht mehr so hell leuchtet wie früher, bevor ich sie enttäuscht habe, aber es ist immer noch da. In den letzten Wochen habe ich selbst versucht, ein wenig Licht in die Dunkelheit zu bringen, aber ich würde es nur schwer ertragen, wenn ihr Licht für mich ganz erlöschen würde.
Ich balle die Hände in meinem Schoß zu Fäusten und kämpfe gegen den Drang an, einfach aufzustehen und zu verschwinden. Keine Ahnung, wie oft ich heute schon tief Luft geholt habe, jetzt muss ich es wieder tun.
»Als Jesse aufgewacht ist, war ich so verdammt glücklich. Ich hatte die Hoffnung, dass wir es schon hinkriegen würden, irgendwie. Ich würde das Geld auftreiben und alles würde gut werden. Aber am nächsten Tag, als ich ins Krankenhaus gekommen bin, hatte er gerade erfahren, dass er nicht mehr laufen kann. Und dann ... Er war völlig außer sich. Er hatte gerade in der Highschool angefangen, Football zu spielen, und er hatte Talent. Er träumte davon, ein Football-Star zu werden. Das war sein Traum, so wie mein Traum die Musik war. Egal, wie unrealistisch diese Träume auch waren, seiner ist an diesem Tag geplatzt. Er hat mich angeschrien, mich gefragt, wie ich ihn mitnehmen konnte, wie ich ihn da liegen lassen konnte, wie ich ihn so im Stich lassen konnte. Und dann hat er gebrüllt, dass ich aus seinem Leben verschwinden soll und dass er mich hasst.«
»Oh nein.«
»Ich war total überfordert und habe einfach getan, was er verlangt hat. Ich bin gegangen. Und weißt du was, je länger ich darüber nachgedacht habe, desto klarer wurde mir, dass er recht hatte. Ich hätte ihn niemals mitnehmen dürfen. Ich war sein großer Bruder und ich kannte ihn. Ich wusste, wie er ist. Im Grunde war mir klar, dass er nicht im Auto bleiben würde. Er war mutig, kannte keine Angst und hat sich schon immer viel zu sehr nach Abenteuern gesehnt.«
»Das ist es? Das, was er dir bis heute vorwirft?«
Vornübergebeugt starre ich auf meine Hände, die jetzt schlaff in meinem Schoß liegen. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, aber ich höre den Unglauben in ihrer Stimme. Mein Kiefer verkrampft sich und ich schlucke schwer.
»Nein. Das ist noch immer nicht alles, Tia. Noch lange nicht. Jesse war ziemlich lange im Krankenhaus und ich war in diesen Wochen viel unterwegs. Ich habe alles getan, was ich konnte, um dieses beschissene Geld so schnell wie möglich aufzutreiben, und ich hatte nicht viel Zeit. Das war meine erbärmliche Ausrede dafür, nicht mehr nach Jesse zu sehen.«
»Du hast ihn gar nicht mehr besucht?« Sie klingt nur erstaunt, kein Vorwurf schwingt in ihren Worten mit. Noch nicht. Ich schließe die Augen und spucke aus, was mich von allen Dingen, die ich getan habe, mit am meisten quält.
»Nein. Ich habe ihn nicht mehr besucht, ihn nicht angerufen, ihm nicht geschrieben. Nicht mal abgenommen, wenn er angerufen hat und nicht geantwortet, wenn er geschrieben hat. Das hat er aber nur ein paar Mal versucht. Ich glaube, dass die Frau vom Amt bei ihm war und ihm das mit der Pflegefamilie erzählt hat, hat ihm den Rest gegeben. Er muss gedacht haben, ich will ihn endgültig loswerden.«
»Aber warum?«, fragt sie, ohne mich anzusehen, und ich habe keine Ahnung, was sie denkt.
»Weil ich es nicht ertragen habe, ihn so zu sehen und zu wissen, dass es meine Schuld war. Ich konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich wollte die Verzweiflung in seiner Stimme nicht mehr hören. Ich konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen, so blass und klein in diesem Bett mit all diesen Apparaten. Ich konnte nicht mal daran denken. Meine Schuldgefühle haben mich aufgefressen. Aber weißt du was, dass ich ihn allein gelassen habe, hat die Schuldgefühle nur noch verstärkt. Weil ich irgendwo in mir schon immer wusste, dass es falsch war. Unverzeihlich. Dass ... dass ich ihn so im Stich gelassen habe, war eines der schlimmsten Dinge, die ich je in meinem Leben getan habe.«
Die Stille, die folgt, kreischt so laut in meinen Ohren, dass ich mir am liebsten die Hände darauf pressen möchte. Ich schließe die Augen und warte auf ihre Reaktion. Als keine kommt und ich es wage, sie anzusehen, starrt sie mit zusammengezogenen Brauen ins Leere. Schließlich atmet sie langsam und entschlossen aus, als hätte sie gerade eine Entscheidung getroffen. Dann sieht sie mich an, ist ihr Blick so eindringlich, als würde sie mich hypnotisieren wollen.
»Sag so was nicht. Er hat dich weggeschickt, Wy.«
Ich schüttle den Kopf. So einfach kann man mich nicht freisprechen. Ich weiß das. Ich habe es lange genug versucht.
»Er war nur ein vierzehnjähriger Teenie, dessen Träume gerade geplatzt waren. Er war wütend und verzweifelt und musste das irgendwie rauslassen. Und er hat sich von mir abgeschoben gefühlt. Ich war der große Bruder. Ich hätte drüber stehen und es versuchen sollen. Immer wieder versuchen. Das hab ich aber nicht. Im Gegenteil. Ich hab ihn abgeblockt.«
Mit beiden Händen reibe ich mir übers Gesicht. Ich fühle mich so erschöpft, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. Dabei liegt die Hälfte des Weges noch vor mir.
»Ich kenne diese Schuldgefühle«, sagt sie leise und ich richte mich auf, um sie anzusehen. »Die hatte ich auch die ganze Zeit, wegen meiner Mom. Ich habe sie ja auch im Stich gelassen, auf eine Art. Aber weißt du was, sie war meine Mom und ich war ein Kind. Sie hätte sich um mich kümmern müssen, nicht umgekehrt. Und du warst doch auch nur vier Jahre älter als dein Bruder. Das war alles viel zu viel für dich. Das alles hätte nie deine Verantwortung sein dürfen. Ihr hattet eine Mutter und einen Vater. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, nicht deine, Wy.«
Ich starre sie an. Ihre Stimme klingt so sanft. Sie verurteilt mich nicht. Stattdessen liegt plötzlich eine Wärme in ihrem Blick, die dafür sorgt, dass mein Herz ein paar Takte schneller schlägt. Ein Teil von mir will sogar den Gedanken zulassen, dass sie recht haben könnte. Dass es zu viel war und vielleicht doch nicht alles allein meine Schuld.
»Erzählst du mir, wie es danach weiterging?«
Ein paar Momente vergehen, in denen ich den Faden suchen muss, in all dem aufgewühlten, trüben Chaos in meinem Kopf.
»Ich wollte Jesse erst wieder unter die Augen treten, wenn ich das Geld zusammen habe. Wenn ich ihm sagen kann, dass er operiert werden kann. Wenn er weiß, dass er wieder laufen kann. Ich hab versucht, alles andere aus meinem Leben zu streichen und mich nur noch darauf zu konzentrieren, dieses Geld zu beschaffen.«
»Okay. Und was war mit Katie?«
»Katie? Die war verdammt sauer auf mich. Sie war sauer, dass ich sie in eine Pflegefamilie abgeschoben habe. Sie war sauer, dass sie all ihre Freundinnen verlassen musste. Sie war sauer, weil ich so wenig Zeit für sie hatte. Und vor allem war sie sauer, weil ich Jesse nicht besucht habe. Irgendwann ist sie richtig ausgeflippt, wenn sie mich gesehen hat, dann hat ihre Pflegemutter mir den Kontakt mit ihr verboten. Ich habe mich die ganze Zeit an den Gedanken geklammert, dass sich alles wieder einrenken würde, wenn ich Jesse erst diese Operation verschafft habe. Wenn er wieder laufen kann, wird alles gut, das habe ich mir erfolgreich eingeredet. Ich dachte, dann würde sie mir verzeihen.« Ein bitteres Lachen kommt über meine Lippen. Über mich selbst.
»Aber ... irgendwann hast du doch Erfolg gehabt, Wy. Irgendwann hattest du doch das Geld für die Operation zusammen.«
»Ja. Ich war erst ein paar Monate in der Gang, da hat Trev mir gesagt, dass dieses Leben nichts für mich ist und ich nur noch mein Musik-Ding machen soll. Den Rap-Shit voll durchziehen, hat er es genannt. Er war ziemlich gut mit einem der Juniorbosse befreundet und hat es irgendwie geschafft, dass ich aussteigen konnte. Und er hatte ein bisschen Geld gespart, damit hat er mich gesponsert. Er hat mich mit Chase zusammengebracht und von da an konnte ich mich voll auf meine Karriere konzentrieren. Du hast keine Ahnung, was ich alles getan habe, um groß zu werden. Ich war mir für nichts zu schade. Ich bin der heuchlerischste Arsch auf Erden, weil ich dir in diesem Rap etwas vorgeworfen habe, was du nie getan hast. Aber ich.«
*****
Was hat er denn getan? Habt ihr eine Ahnung?
Noch ein Kapitel, dann wissen wir so ziemlich alles über ihn. Mal sehen, was Tia dann daraus macht. Das ist sogar schon ziemlich fertig, muss nur noch ein paar Mal drüber lesen, damit alles passt ...
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Verflixter Rapper!
Romance⩥ ROMANCE ⩤ Popsängerin Cynthia Gale ist auf dem Weg nach oben. Auf der Bühne fühlt sich die sonst so schüchterne junge Frau frei und selbstbewusst. Mit Ehrgeiz und harter Arbeit erzielt sie erste Platzierungen in den Charts. Der zynische Rapstar Wy...