43 ◉ Tia ◉ Wasserhahn

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Es ist nach Mitternacht, als er aufsteht und geht. Er ist leise wie ein Einbrecher, bemüht sich, kein Geräusch zu machen, aber ich höre ihn trotzdem. Ich höre alles, denn ich bin immer aufmerksam, wachsam, auf der Lauer. Viele Jahre lang war es für mich wichtig, über alles Bescheid zu wissen, was um mich herum vorging. Ich musste wissen, wenn sie etwas vorhatte. Ich musste es vorausahnen, um rechtzeitig reagieren zu können.

Eine Zeit lang war die Wachsamkeit aus meinem Leben verschwunden, weil ich mich hier sicher gefühlt habe, doch seit mir klar geworden ist, dass Wy sich immer weiter von mir entfernt, dass er eine dunkle Mauer zwischen uns aufbaut, die von Tag zu Tag höher wird, hat sie sich klammheimlich zurück in mein Leben geschlichen.

Kurz befällt mich der Drang, ihm zu folgen und ihn zur Rede zu stellen, aber selbst wenn ich das wagen würde, ich kann es nicht. Es ist, als bestünden meine Muskeln aus Stein, hart und unbeweglich, und ich schaffe es nicht, auch nur einen davon zu rühren. Wie einbetoniert liege ich regungslos da, hilflos und machtlos, bis alles wieder vollkommen still ist.

Die nächsten Stunden wälze ich mich unruhig im Bett hin und her. Ich frage mich, wohin er geht und was er dort macht. Fährt er einfach nur ziellos umher? Oder zieht es ihn an einen einsamen Ort? In einen Club? Zu einer anderen Frau?

Immer mehr steigere ich mich in alle möglichen Horrorszenarien hinein. In der einen Version wälzt er sich im Bett mit einer wunderschönen Frau, die Jodie verdächtig ähnlich sieht, in der nächsten hat sich sein Auto um einen Baum gewickelt und er hängt bewusstlos und blutend über dem Lenkrad.

Mein Herz hämmert mittlerweile viel zu schnell und ist bleischwer, so dass ich kaum noch an dem Klumpen in meiner Brust vorbei atmen kann. Mir ist unerträglich heiß, dann wieder so kalt, dass ich zittere. An Schlaf ist nicht mehr zu denken, deshalb stemme ich mich aus dem Bett, um ruhelos im Zimmer auf und ab zu gehen.

Die Dunkelheit hängt vor den Fenstern wie eine weiche, schwere Decke, die mich einhüllt und von der Außenwelt abschirmt. Kein Laut dringt von draußen herein. Wys Haus ist wie eine stille Insel inmitten einer Stadt voller Leben, die niemals schläft. Ein traumhafter Ort, seltsam unwirklich.

Seit ich hier bei ihm bin, lebe ich in einer ganz anderen Welt. Es ist wie ein Urlaub von meinem Ich, von dem Leben, das ich so viele Jahre geführt habe. Aber ich frage mich immer mehr, ob das echt ist. Ob ich mich wirklich verändert habe, oder ob es nur an der Umgebung liegt, oder an seiner Nähe. Ob meine Sicherheit nicht trügerisch ist, völlig von ihm abhängig. Und wenn er mich am Ende fallen lässt, bin ich wieder das hilflose kleine Mädchen, ihnen schutzlos ausgeliefert. Das darf nicht passieren.

Ich wünschte so sehr, er würde mit mir reden. Mir erzählen, woher diese Albträume kommen, die ihn so oft quälen. Ich möchte wissen, was ihm auf dem Herzen liegt, was er denkt und fühlt. Wohin er sich flüchtet, um es auszuhalten. Wie ich ihm helfen kann.

Wie Pop-ups tauchen immer wieder Teile meines Gesprächs mit Rosa in meinem Kopf auf. Sie foltern mich mit ihrer Logik. Ich will das alles nicht hören. Ich wehre mich gegen ihre nüchterne Sicht, die gnadenlos meinen schönen Traum von einem glücklichen Leben mit Wy attackiert. In den letzten Tagen ist mir das gelungen, doch heute begreife ich, dass sie recht hat. Ich darf mich nicht länger in meine Traumwelt flüchten und die Augen davor verschließen, dass wir unaufhaltsam auf den Abgrund zusteuern. Ich muss handeln, bevor es zu spät ist. Ich muss Wy klarmachen, dass er mit mir reden muss. Es ist der einzige Weg, wenn wir uns retten wollen.

Der Morgen hängt grau und drückend am Horizont, als die Scheinwerfer eines Autos sich durch die Dämmerung brennen. Ich stehe noch immer da und starre aus dem Fenster, als die Lichter längst wieder verschwunden sind, aber es dauert nicht lange, bis sich die Tür in meinem Rücken leise öffnet. Ich weiß, dass er hinter mir steht, aber ich wage es nicht, mich umzudrehen.

Verflixter Rapper!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt