28 ◉ Tia ◉ Sie

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Meine zitternde Faust schwebt vor der Tür des Besprechungszimmers. Ich lasse sie sinken, nur um sie kurz darauf wieder anzuheben. Sekunde um Sekunde zerrinnt, aber ich wage es nicht anzuklopfen. Andererseits, je länger ich zögere, je länger ich Rhonda auf mich warten lasse, desto schlimmer wird es. Mir bleibt keine Wahl. Mit einem tiefen Atemzug kneife ich die Augen zusammen und lasse meine Fingerknöchel auf das harte Holz treffen.

Es war nicht besonders laut, doch sie hat es gehört. Ein energisches »Komm herein« dringt zu mir durch.

In meinem Magen windet sich die Angst wie eine unruhige Schlange. Übelkeit steigt in mir auf. Meine Hand umklammert den kalten Türgriff und ich senke meinen Blick auf die Spitzen meiner rosa Filzhausschuhe, bevor ich endlich die Klinke herunterdrücke und das Zimmer betrete.

»Guten Morgen«, hauche ich, ohne aufzublicken.

Obwohl ich es nicht will, vergraben sich meine Zähne in meiner Unterlippe.

»Cynthia!«

Ich zucke zusammen, als die kalte Stimme die Luft zerschneidet wie ein scharfes Messer, das sich direkt in mein Herz bohrt. Mein Blick aus weit aufgerissenen Augen fliegt nach oben, nur um zu sehen, was ich bereits wusste. Rhonda ist nicht alleine. Sie hat sie mitgebracht.

»Und der Morgen, mein Fräulein, ist längst vorbei.«

Der mir nur allzu bekannte spöttische Tonfall und der schwach hörbare russische Akzent lassen mein Blut in den Adern gefrieren. Plötzlich ist mir eiskalt.

Sie ist hier. Hier, wo ich mich so zu Hause und sicher gefühlt habe wie nirgendwo sonst. Doch ich bin nirgends sicher. Es gibt kein Entkommen.

»Von ›Morgen‹ kann wirklich nicht mehr die Rede sein.«

Rhondas Feststellung lässt meinen Blick zu ihr schweifen. Sie sieht wie immer perfekt aus in ihrem maßgeschneiderten dunkelblauen Kostüm mit engem Bleistiftrock, weißer Bluse und taillierter Jacke. Ihr Haar fällt ihr in goldenen Wellen über die Schultern und ihr Gesicht ist frisch und glatt. Sie könnte als Anfang dreißig durchgehen. Kaum zu glauben, dass diese Frau so alt ist wie meine Mom.

Sie steht neben Rhonda am Fenster, in einem eleganten hellgrauen Rollkragenpullover und einer engen schwarzen Stoffhose. Schlank, beinahe hager und aufrecht, als hätte sie einen Stock im Rücken. Das dunkelbraune, mit grauen Strähnen durchzogene, kurze Haar wie immer streng zurückgekämmt, das kantige Gesicht zu einer missbilligenden Grimasse verzogen. So diszipliniert und respekteinflößend wie eh und je.

»Komm näher.«

Mein Herz pocht tapfer gegen meine Rippen, obwohl ihre gefühllose Stimme alles in mir erstarren lassen will. Ich reibe meine verschwitzten Hände an meiner dunkelblauen Jeans. Widerwillig leiste ich ihrem Befehl folge.

Ich bin einundzwanzig, doch etwas an ihr gibt mir das Gefühl, ein kleines, hilfloses Kind zu sein. Ein völlig wehrloses Kind. So war es von Anfang an. Nichts hat sich geändert.

Irinas braune Augen strahlen nichts als Ablehnung und vielleicht sogar Abscheu aus, und nicht zum ersten Mal frage ich mich, wie braune Augen so kalt wirken können. Sie legt ihre Hand an mein Gesicht und ich muss mich zusammenreißen, um bei der Berührung ihrer knochigen Finger nicht zu erschauern. Ihr furchtbar vertrautes, schweres orientalisches Parfum kriecht mir in die Nase und lässt mich die Luft anhalten. Ich kann es mir nicht leisten, mich zu übergeben.

»Ich bin enttäuscht von dir, Cynthia.«

Sie presst ihre schmalen Lippen zusammen und schüttelt den Kopf.

»Sehr enttäuscht. Du bist undankbar und denkst nur an dich. An dein Vergnügen. Du setzt alles aufs Spiel, was wir erreicht haben. Man könnte fast meinen, du bist verrückt geworden. Du benimmst dich so. Genau wie sie. Du verhältst dich wie eine vollkommen Irre.«

Verflixter Rapper!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt