38 ◉ Tia ◉ Schmetterlinge

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Ich war noch nie an einem schöneren Ort als auf der Terrasse dieses Strandhauses. Im Schatten eines Sonnensegels schaue ich auf das Meer hinaus, das in der Sonne glitzert, als wäre es über und über mit winzigen Diamanten besetzt. Ich habe keine Ahnung, wo Wy das Frühstück bestellt hat, das den ganzen Tisch in Beschlag nimmt und mit dem Buffet in einem Luxushotel konkurrieren könnte.

Trotzdem bekomme ich kaum einen Bissen hinunter. Es fühlt sich nicht gut an, Jesse aus seiner Wohnung vertrieben zu haben. Das schlechte Gewissen rumort in meinem Magen und nimmt mir jeden Appetit. Wy geht es wohl ähnlich, denn sein Teller bleibt leer. Dafür trinkt er eine Tasse Kaffee nach der anderen. Außerdem verschwindet er immer wieder kommentarlos für eine Weile im Haus und wenn er am Tisch sitzt, herrscht angespanntes Schweigen zwischen uns. Ich frage mich immer mehr, ob ich mir die Nähe und das Verständnis, die bis heute Nacht zwischen uns herrschten, nur eingebildet habe.

Nachdem ich letzte Nacht so glücklich war wie noch nie, fühlt sich die Kälte und Distanz zwischen uns viel schlimmer an als ganz am Anfang. Ohne dass ich es beeinflussen kann, kreisen hässliche Gedanken in meinem Kopf wie Geier über dem Kadaver meines Glücksgefühls.

Wy hat mir gesagt, dass er mich liebt. Immer und immer wieder. So schöne Worte.

Schöne Worte lügen.

Er hatte mich. Vielleicht hat er jetzt das, was er wollte. Vielleicht bin ich schon zu viel für ihn? Vielleicht war das alles gar nicht echt? Nur ein Spiel?

All die mühsam auf niedriger Flamme gehaltenen Unsicherheiten und Ängste kochen in mir hoch, sind kurz davor überzubrodeln und meinen ganzen Körper zu überschwemmen. Was werde ich tun, wenn es so weit ist? Weglaufen? Zu ihnen zurückkehren? Ich will es lieber gar nicht wissen.

Eine kleine Stimme redet mir beharrlich gut zu, dass das alles nichts mit mir zu tun hat. Dass nur die Begegnung mit seinem Bruder schuld daran ist, dass er sich jetzt so anders verhält. Doch von Minute zu Minute wird sie leiser.

Erleichtert stoße ich die Luft aus, als gegen Mittag endlich die Haustür hinter uns ins Schloss fällt. Ich habe keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht, aber das Haus zu verlassen, fühlt sich richtig an. Auch wenn ich hier die schönste Nacht meines Lebens verbracht habe. Der Morgen danach streut eine große Prise Salz auf die zuckersüße Erinnerung.

»Hast du einen Führerschein, Tia?«

Ich schrecke zusammen und sehe Wy mit großen Augen an. Nachdem wir nach Jesses Verschwinden kaum noch ein Wort miteinander gewechselt haben, kommt es überraschend für mich, dass er plötzlich wieder redet.

Von der Leere, die in den letzten Stunden in seinem Blick lag, ist nichts mehr zu sehen. Als hätte er die Geschehnisse dieses Morgens hinter der Haustür zurückgelassen. Als hätte er einen Schalter umgelegt und jeden Gedanken daran einfach abgeschaltet. Als würde er nahtlos an die letzte Nacht anknüpfen und in der Zwischenzeit wäre gar nichts Besonderes passiert. Seine Miene ist weicher geworden, seine Schultern haben ihre Anspannung verloren. Nun liegt ein fiebriger, aufgeregter Glanz in seinen Augen, den ich nicht richtig deuten kann.

»Ja. I...« Ich hole tief Luft. Es fällt mir jedes Mal schwer, diesen Namen auszusprechen. »Irina hat keinen, deshalb haben sie es für sinnvoll gehalten, dass ich ihn mache.«

Wy nickt und runzelt die Stirn. »Und fährst du gerne? Ich meine, nach deinen Erfahrungen ...« Bei diesen Worten verdunkelt ein Schatten das Leuchten in seinen Augen, während mich im selben Moment eine Welle von Glück und Wärme überrollt. Es ist so lange her, dass ich jemanden hatte, der mir aufmerksam zuhört. Der sich für meine Gefühle interessiert. Der sogar Rücksicht darauf nimmt.

»Ja. Sehr gerne. Eigentlich ist es mir viel lieber, als irgendwo mitzufahren.«

Wy grinst, zieht etwas aus seiner Hosentasche und wirft es mir zu. Überrumpelt reiße ich die Hände hoch und schaffe es gerade noch, dieses Etwas auffangen. Erstaunt blinzle ich auf den Schlüssel, versehen mit einem schweren gelben Anhänger, auf dem ein steigendes schwarzes Pferd prangt.

Verflixter Rapper!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt