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Meine ganzer Körper zittert, als ich den schmalen Flur entlanggehe. Der Geruch von Desinfektionsmittel liegt in der Luft. Als ich schließlich vor der richtigen Tür stehe, habe ich das Gefühl, mein Frühstück würde mir wieder hochkommen. Ich atme tief durch und bereite mich auf das vor, was ich gleich hinter der einfachen weißen Tür sehen werde.

Doch als ich meine Hand auf die Klinke lege und die Tür öffne, wird mir klar, dass mich nichts auf der Welt auf diesen Anblick hätte vorbereiten können. Louis liegt in einem Krankenhausbett, dass viel zu groß für seinen schmalen Körper wirkt. Er ist an einen Tropf angeschlossen und hat seinen Sauerstoffschlauch in der Nase. Seine Haut ist blass, so blass wie ich ihn noch nie gesehen habe. Seine Augen sind halb geöffnet, das Blau in ihnen hat jeglichen Glanz verloren. Das Einzige in diesem Raum, was mich etwas beruhigt, ist die Tatsache, dass sich Louiś' Brust in einem langsamen, aber regelmäßigen Tempo hebt und senkt.

„L-Lou." Für mehr ist meine Stimme gerade einfach nicht in der Lage. Die blauen Augen finden meine und ein Hauch des sonst so für ihn typischen Funkelns kehrt in seinen Blick zurück. „Haz." Meine Mundwinkel biegen sich in die Höhe, während mir die Tränen in die Augen schießen.

Nachdem am vorigen Tag lediglich Jay ihren Sohn besuchen durfte, dürfen heute nun auch endlich weitere Personen vorbeikommen. Während ich zum Bett gehe, spiele ich an dem Kreuz, das um meinen Hals baumelt herum. Neben Louis' Kopf entdecke ich den kleinen Stofftierlöwen, den ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe und muss unter Tränen lächeln.

Ich setze mich auf die Bettkante und nehme Louis ganz vorsichtig in den Arm. Fast so als wäre er ein wertvolles Stück Porzellan, das auf keinen Fall zerbrechen darf. Louis schmiegt sich, wenn auch ziemlich kraftlos, an mich und drückt mir einen sanften Kuss auf die Halsbeuge. „I-ich habe etwas für dich, Lou." Etwas umständlich öffne ich den Verschluss meiner Kette, nehme sie ab und lege sie Louis vorsichtig um den Hals. „Sie wird dich beschützen...egal wo du bist. A-auch bei den Sternen."

Louis klammert sich an meine Hand und schenkt mir ein schwaches Lächeln. Doch die Angst in diesem kleinen Raum ist fast greifbar. „Ich habe auch etwas für dich." Seine Stimme ist leise und es scheint ihn eine Unmenge an Anstrengung zu kosten, nach dem neben ihm liegenden Stofftier zu greifen und es mir in den Schoß zu legen. „Den brauche ich jetzt nicht mehr. Aber du. Damit du nicht immer stark sein musst." Ich streiche dem Löwen mit tränenverschleiertem Blick über die Mähne und ziehe dann Louis erneut in meine Arme. „Danke, Löwenherzchen."

Sein Griff um mich verstärkt sich. Ich bin noch nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Doch wir wissen beide, dass es soweit ist. Ich lege meine Lippen für einige Sekunden auf Louis' und versuche diesen Moment, in dem dank unserer geschlossenen Augen fast Normalität herrschen könnte, zu genießen.

Irgendwann klopft es leise an der Tür und Andy betritt den Raum. Ich mache ihm Platz an der Bettkante und lasse mich auf einem der unbequemen Stühle nieder, die an der Wand stehen. Louis und Andy tuscheln leise miteinander, doch ich gebe mir keine Mühe, ihrer Unterhaltung zu folgen. Sie haben genauso ihre Privatsphäre verdient. Nur als ich ihm letzten Satz meinen Namen höre, horche ich auf. „Pass auf ihn auf. Bitte." Louis' Tonfall ist leise und flehend und ich sehe, wie Andy nickt, ehe er Louis in sein Arme zieht.

Den restlichen Tag kommen nach und nach alle Menschen vorbei, die einen festen Platz in Louis' Leben hatten. Er telefoniert sogar mit seinem Vater. Als es draußen zu dämmern anfängt sitzen wir um sein Bett herum und versuchen irgendwie diese letzten Stunden mit Louis zu genießen, doch das ist schier unmöglich. Es beginnt zu regnen und dicke Tropfen klatschen gegen die Fensterscheibe.

Louis' Atmung wird immer schwächer und ich weiß, was jetzt kommt. Jeder in diesem Raum weiß es, als wir zum letzten Mal das Blau seiner Augen sehen. Ich springe auf und stürme aus dem Zimmer. Mein Sichtfeld ist von Tränen verschleiert, doch irgendwie finde ich den Weg nach draußen. Ein eisiger Wind peitscht mir entgegen und die Regentropfen fühlen sich auf meinen nackten Armen an wie Eiszapfen. Doch nach wenigen Sekunden spüre ich diesen Schmerz kaum noch. Der Schmerz in meiner Brust betäubt alles andere. Ich bin zu nichts mehr in der Lage, außer mich diesem ungeheuren Gefühl hinzugeben.

Irgendwann befinde ich mich auf dem kalten, nassen Boden vor dem Krankenhaus wieder. Der Regen trommelt auf mich ein und der Wind zischt umher, doch mein Körper ist bloß nur noch eine leere Hülle meinerselbst. Ich schaue in den Himmel. Er ist schwarz. Kein einziger Stern zu sehen. Tränen vermischen sich mit dem Regen und werden davon geschwemmt. Meine Augen brennen, meine Brust schmerzt, während sich mein restlicher Körper in einer unüberwindbaren Starre befindet.

Doch plötzlich ist der Himmel nicht mehr nur schwarz. Eine einzige Sternschnuppe zieht durch die Dunkelheit. Trotz allem breitet sich ein warmes Gefühl in meiner Brust aus. Louis. Er hat seine Reise nun beendet, er hat sich von seinem Piloten verabschiedet und ist nun am Ziel angekommen.

Doch die Wärme verschwindet wieder so schnell wie sie gekommen ist. Denn nun ist der Pilot alleine. Alleine auf dieser Welt, die so leer und eisig wirkt. Die auf einmal all ihre Farben und lebenswerten Dinge verloren hat.

So liege ich im Regen und es vergehen die Sekunden, Minuten, vielleicht auch Stunden. Ich weiß es nicht. Es spielt auch keine Rolle mehr. Nichts spielt mehr irgendeine Rolle.

„Harry?" Durch das Rauschen des Windes höre ich, wie mein Name gerufen wird. Ich bleibe liegen. Antworte nicht. Doch Andy findet mich auch so. Stumm betrachtet er mich. Dann legt er sich neben mich. Seine Tränen werden genau wie meine aus seinem Gesicht gewaschen und einzig die geröteten Augen bleiben zurück.

So liegen wir unter dem schwarzen Himmelszelt. Jeder in seine Gedanken, Gefühle und Schmerzen vertieft.
Doch wir sind nicht alleine. Und vielleicht ist es dieses nicht-alleine-sein, wofür es sich lohnt, weiterzuleben. In einer Welt, die eigentlich nicht mehr lebenswert ist.

(1025 Wörter)

Den Sternen so nah - Larry StylinsonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt