36. Kapitel: Mary Clarke

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Ich bekam mit, dass die Verhandlung stillstand. Seit einer Woche gab es keinen Prozess mehr. Und das lag an mir. Oder eher daran, weil man sich nicht einig war, wo ich leben sollte, bis es vorbei war. So hatte Paul es mir erklärt – der immer noch meine einzige Quelle war.

Und ... ich hatte ihm kein Wort abgenommen. Nicht, weil ich ihn für einen Lügner hielt. Aber es ging schon so lange, dass ich an keine Besserung glaubte.

Ich dachte, dass ich nach dem Krankenhaus zurück zu ihr musste. So lange, wie sie es wollte. Denn sie war es, die die Regeln machte. War war mir inzwischen klar.

Sie bestimmte. Und die Vorstellung, dass ich wieder zu ihr musste, tat weh. Ich hatte Alpträume davon, dass es so weiterging wie davor. Und dass ich nicht nach Hause kam. Dass Jamie verlor. Dass Dad und Pops verloren. Dass ich verlor.

Nur behielt Paul Recht. Ich kam da raus. Auf jeden Fall so lange, bis es ein neues Urteil gab. Was für mich immer noch keinen Sinn ergab. Es klang zu fremd in meinen Ohren. Als sei es nicht echt. Nur ein Traum, den ich seit Monaten hatte. Und der nie wahr werden würde.

In ein paar Stunden würde ich wieder aufwachen. Und es wäre alles eine Lüge. Eben nur ein Traum.

Selbst als die Frau vom Jugendamt in mein Zimmer kam und mich mitnahm, glaubte ich es nicht. Nicht mal dann, als wir vor einem Haus hielten, in dem ich jetzt leben sollte.

Es war eindeutig ein Waisenhaus, das war klar. Diese Frau, die sich als Miss Blake vorstellte, sagte das zwar nicht – musste sie aber auch nicht. Ich war nicht blöd.

Wo sollten sie mich sonst hinbringen?

An einen Ort, an den Kinder kamen, um die sich aktuell niemand sorgte. Das war ein Waisenhaus. Selbst wenn ich keine Waise war. Es war nur logisch, dass ich dort hinkam.

Ich wartete eine Weile, sah das Haus vor mir an, blickte dann über die Wiese vor dem Eingang. Es sah nett aus.

Mein Blick wanderte zu dem Torbogen vor mir, auf dem in großen Buchstaben „Zur aufgehenden Sonne" stand. Ich hob den Kopf, starrte eine Weile darauf.

An ein paar Buchstaben war die Farbe verblasst.

„Mary?"

Ich senkte den Blick, sah Miss Blake an.

„Gehts dir gut?"

Ich rieb mir leicht über die Stirn. Seit zwei Tagen hatte ich den Verband nicht mehr. Mein Kopf tat aber noch etwas weh. Genau wie mein Arm.

Die Ärzte hatten gesagt, ich sollte ihn nicht zu sehr belasten. Was auch immer das hieß.

„Ja. Mir gehts gut.", entkam es mir dann.

Miss Blake nickte. Leicht strich sie sich eine lose blonde Haarsträhne aus dem runden Gesicht.

„Wollen wir reingehen?", fragte sie vorsichtig.

Ich hob wieder den Blick, sah den Torbogen an.

„Wie lange muss ich hier bleiben?"

„Nicht lange." Ich hörte, das Lächeln aus ihrer Stimme, auch wenn ich sie nicht ansah. „Du bist ganz schnell wieder zu Hause."

„Das hab ich schon mal gehört.", murmelte ich, legte meine Hand an meinen verletzen Arm. „Und ich bin immer noch nicht zu Hause."

„Mary."

Sie legte mir die Hand auf die Schulter. Reflexartig machte ich einen Schritt zur Seite, krallte meine Finger an die Stelle, wo sie mich berührt hatte.

„Oh. Entschuldigung."

Ich schüttelte den Kopf.

„Schon in Ordnung.", sagte ich mit zitternder Stimme.

MaryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt