47. Kapitel: Ryan Martinez

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Der nächste Prozess fand zwei Tage nach der ganzen Aktion im Krankenhaus statt. Und mir fiel auf, wie sehr Chris heute mit sich haderte. Noch mehr als sonst.

Er hatte die Nacht auch kaum geschlafen, das sah ich ihm an. Und ich war mir sicher, dass es jetzt an Enisa lag.

Wie alles, was im Moment passierte an ihr lag.

Das war das, was mich so wütend machte. Ich hatte keinen Grund, eifersüchtig zu sein, wie manche es dachte. Ich war sauer, weil sie nur Chaos verursachte.

Chaos und Leid.

Anders konnte man es nicht sagen. Das alles war nur ihr Verdienst. Und Chris nahm es von Tag zu Tag mehr mit.

Es kam mir vor, als erdrückte ihn diese Begegnung mit ihr. Seitdem Mary fort war, hatte er nie wieder nur ein Wort mit ihr gewechselt.

Er hatte mir nicht erzählt, was passiert war – und ich hatte ihn nicht gefragt.

Nicht, weil es mir egal war. Es fiel ihm nur so schwer, das Ganze einzuordnen. Und da musste ich mich nicht noch reindrängen.

Ich musste nicht alles wissen. Wenn er es mit mir teilen wollte, war ich da. Und er wusste das.

Vorsichtig griff ich nach seiner Hand, nahm sie in meine. Leicht hob er den Kopf, sah mich an, während Richards, seit schon fast zwei Stunden befragt wurde.

Meine Augen trafen seine. Er hielt meinem Blick einen Moment lang stand, drückte meine Hand. Ich erkannte, wie er leicht nickte.

Er sah von Tag zu Tag erschöpfter aus. Wie aus Reflex ergriff ich seine Hand fester. Ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er hielt meine Hand fest, wandte sich dann wieder nach vorne. Ich tat es ihm gleich, sah zu Richards.

Es war schräg. Ich hatte diesen Mann noch nie gesehen. Aber er strahlte so eine Ruhe aus, dass ich verstand, wieso Chris so lange bei ihm war.

Er hatte eine Art an sich, dass man ihm gern zuhörte. Und er kam mir so anders vor, als die Therapeuten, die ich schon kennengelernt hatte. Was nicht sehr viele waren.

Und das lag an mir, keine Frage. Weil ich mich bis jetzt noch nie dazu hatte bringen können, mich auf so etwas einzulassen.

Und mir war klar, wie heuchlerisch das klang. Wenn ich es war, der mit Bill zu einem Kinderpsychologen gegangen war, nachdem Rina starb.

Ich spürte, wie Chris meine Hand fester drückte. Er neigte den Blick näher zu mir.

„Gehts' dir gut?", hörte ich ihn flüstern.

Mir entkam ein leichtes Lächeln, als ich den Kopf hob. Dann nickte ich.

„Ja.", brachte ich gedämpft heraus. „Was ist mit dir?"

Er nickte. Und ich glaubte ihm das sogar. Nach all den Jahren erkannt ich, ob er etwas so meinte oder es nur sagte, um der Konfrontation aus dem Weg zu gehen.

„Bis jetzt hat er noch nichts gesagt, was er mir nicht so oder ähnlich selbst gesagt hat.", hörte ich ihn.

Fragend sah ich ihn an, doch er nickte nur, strich leicht über meine Hand. Fester schloss ich meine Finger um seine, wandte mich wieder nach vorne.

Kurz warf ich einen Blick auf die Uhr. Die Befragung ging schon echt lange. Oliver hatte ihn schon den ganzen Vormittag befragt. Und das ganze nahm wohl kein Ende.

Der Anfang war verdammt trocken. Es ging um seine Ausbildung, wo er studiert hatte, was sein Fachgebiet war und wie lange er Chris schon „behandelte" und so weiter.

Auch wenn ich jetzt wusste, dass er Chris betreute, seitdem dieser wieder in Amerika war. Auch eine Sache, die bei uns nie zur Sprache kam. Ich wusste kaum etwas über diese Zeit. Weil es auch nichts war, dass ich wieder in ihm aufrütteln wollte.

MaryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt