8. Kapitel: Mary Clarke

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Die letzten Tage und Wochen waren ... ungewohnt normal.

Sicher, mein „Standard" von normal war hier etwas anders.

Vielleicht sollte ich es so sagen: Enisa war nett zu mir. Und das wiederum hieß, dass ... sie mir nicht weh tat.

Sie war ... beinahe schon freundlich. Vermutlich könnte man auch mit ihr reden, ohne dass sie an die Decke ging. Aber ... das Risiko war mir zu hoch. Es konnte nur so bleiben, wie jetzt.

Es kam mir schon wie ein Traum vor.

Dabei war sie nicht mal ... besonders nett. Nur ... normal.

Hieß ... sie schrie mich nicht an, sie schlug mich nicht, sie sperrte mich nicht ein, wenn sie wegmusste. Nichts von dem, was ich inzwischen von ihr gewöhnt war.

Vielleicht war das ihre Art von „Weihnachtsgeschenk".

Wenn dem so war, könnte es von mir aus so lange so weitergehen, bis ich wieder nach Hause durfte.

Leise atmete ich auf, starrte auf mein Spiegelbild. Ich hob die Hand, strich mir die Haare hinter das Ohr. Meiner Meinung nach waren die schon wieder zu lang. Ich hatte sie lieber kurz bis über das Kinn. Inzwischen gingen sie mir fast zur Schulter.

Enisa fand das aber wohl „hübsch".

Schräge Frau. Waren doch meine Haare.

Vorsichtig fuhr ich über meine Wange. Das Auge tat mir immer noch weh ... aber es wurde besser. Oder ich redete es mir nur ein, dass ich klar kam. Weil ich ... allein war. Ich kannte hier kaum jemanden.

Zögernd sah ich auf die dunklen Flecken auf meinem Arm. Ich biss mir auf die Lippe, zog den Ärmel wieder zurück.

Ich wollte das nicht sehen. Fest krallte ich die Finger in den Stoff, schloss die Augen.

Eigentlich sollte ich froh sein, dass es so gut lief. Es war beinahe schon zu normal für sie. Sie tat nichts von dem, was ich sonst so gewöhnt war.

Ich atmete auf, ging dann zurück zu meinem Bett, ließ mich darauf fallen. Kurz sah ich an die Decke, schloss die Augen. Im Moment war es okay. Sie war ... besser gelaunt.

Ihr letzter Ausbruch war schon eine Weile her. Und die Zeit brauchte ich auch.

Oder mein Körper, damit die Verletzungen verheilten.

Es wurde besser ... Irgendwie ...

Und im Moment war sie gut drauf. Was auch immer das heißen sollte.

Langsam schloss ich die Augen. Wieder dachte ich Pops. An ihn und Dad ... und Bill.

Sie fehlten mir so sehr.

Ich würde alles dafür geben, dass ich sie endlich wieder sah. Dass sie mich hier raus holten. Hier ... hielt ich es nicht mehr lange aus.

Und ich wollte nur nach Hause.

Sie sollten vor der Tür stehen ... und mich mit mitnehmen. Mehr wollte ich nicht. Ich wollte nur dort hin zurück, wohin ich gehörte. An den Ort, wo ich Menschen hatte, die mich liebten.

Leise seufzte ich auf, dachte an letztes Jahr zurück. Als noch alles okay war.

Niemand hatte es für möglich gehalten, dass das bald zu Ende sein würde. Und ... Enisa ... war nie ein Teil von uns. Warum sollte sie auch?

Sie war nie ein Teil von mir gewesen. Ich hatte sie bis vor ein paar Monaten nicht mal gekannt.

Jetzt „kannte" ich sie. Und doch ... wusste ich nichts von ihr. Ich hatte keine Ahnung, wer diese Frau war.

MaryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt