Kapitel 31

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Am nächsten Abend lag ich nachdenklich in meinem Bett. Es war 2 Uhr morgens und ich konnte nicht schlafen. Unendlich viele Gedanken strömten durch meinen Kopf. Ich fand es erstaunlich, dass ich mir durch den Unfall nicht einmal ein Knochen brach, doch Batuhan im Koma lag. Die Trauer, die ich in diesem Moment verspürte, kann ich nicht erklären. In meinem Kopf lebte etwas, was mir die ganze Zeit Schuldgefühle einredete. Dadurch versuchte ich mich immer mehr, an den Vorfall zu erinnern. Doch je mehr ich es versuchte, desto schmerzhafter war es für mich. Ich dachte an jenem Abend auch an Anil, Aurela und meine Zukunft. Ich empfand mein Leben einfach nicht mehr lebenswert. Als sei alles, was mir lieb war von meiner Seite gewichen. Vor allem Batuhans Lage traf mich sehr hart. Er war somit der einzige, der sich jemals wirklich für mich interessiert hätte. Und nun lag er im sterben. Je länger ich an die Situation dachte, desto schneller schlug mein Herz. Ich konnte wegen dem Druck, den ich mir selber zufügte, nicht regelmäßig atmen. Mein Herz fühlte sich zerquetscht und unwohl.

Es war nun 4 Uhr morgens und ich lag schweißgebadet in meinem Bett. Millionen von Tränen flossen meine Wange hinunter und ich bekam das Bedürfnis einfach zu verschwinden. Doch ich wusste, dadurch wäre ich nicht befreit. Also sah ich den Tod als Ausweg. Als Befreiung. Ich wollte sterben aber nicht, weil ich nicht leben wollte, sondern weil ich diese Schmerzen nicht mehr fühlen wollte. Ich wollte leben, nur halt nicht so. Also stand ich auf, gerade gerichtet ins Badezimmer. Ich schluchzte und schloss die Tür vom Badezimmer ab. Aus dem Medizin-Schränkchen nahm ich eine Dose mit Tabletten und eine Schachtel mit Ersatzklingen. Weinend nahm ich eine Klinge und sah mein Arm als Ziel. Innerlich fing ich an über mich zu fluchen. Die Stimmen in meinem Kopf redeten mir ein:" Du hast Batuhan umgebracht! Du bist eine Schande für deine Familie! Du Hure bist ein Nichtsnutz." Weinend drückte ich die Klinge in die Innenseite meines Armes, in die Nähe meines Handgelenkes. Sofort strömte Blut und ich ließ es in den Waschbecken Tropfen. Je fester ich drückte, desto lauter wurden die Stimmen in meinem Kopf. Ich dachte, sie würden endlich Ruhe geben, als ich auf einmal die Klinge in Richtung meines Ellenbogens zog. Unmengen von Blut floss an meinem Arm entlang und ich weinte vor Schmerzen. Doch diese Schmerzen befriedigten mich. Sie gaben mir aber auch große Angst. Ich bekam eine ungefähr 7 Zentimeter lange Wunde und es schien so, als würde diese nicht aufhören zu bluten. Aus Angst nahm ich die Dose mit den Tabletten und schluckte viele auf einmal. Mein Wunsch zu sterben wurde immer stärker. Ich weinte und schluchzte, bis ich schwarz vor Augen sah.

2 Wochen später

"Ich hoffe wir sehen uns nicht noch einmal, Frau Güven.", sagte mein Psychologe aus dem Krankenhaus und entgegnete mir seine Hand, die ich schüttelte. Anschließend gab er meine Entlassungspapiere und eine Liste von Tabletten, die ich gegen meine sogenannten "Depressionen" einnehmen sollte. Ich nickte freundlich und der Psychologe gab meiner Mutter sicherheitshalber seine Karte. Daraufhin verließen meine Mutter und ich das Krankenhaus. Die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir war seit jenem Tag noch dramatischer. Meine Mutter ließ mich einfach nicht mehr aus den Augen.

Was geschah? Mein Wunsch zu sterben hatte sich nicht erfüllt. Im Nachhinein fand ich das auch besser so. Ich lag höchstens 10 Minuten bewusstlos auf dem Toilettenboden, als mein Vater die Tür aufbrach, seine Finger in mein Hals steckte und mich in die Badewanne kotzen ließ. Meine offene Wunde wurde genäht und ich lag für zwei Wochen im Krankenhaus. Das krasse an der Sache war, dass ich an jenem Morgen, indem ich versuchte Selbstmord zu begehen, Batuhan aus dem Koma erwachte. Ich sah ihn in den zwei Wochen nicht ein einziges Mal. Meine Mutter erzählte mir, er sei schon seit einigen Tagen aus dem Krankenhaus entlassen und hätte sie vor meinem Haus gefragt, wo ich wäre, doch meine Mutter gab ihm keine Auskunft. Seit dem Unfall hatte sie aufgehört Batuhan zu mögen und versuchte mir tagtäglich einzureden, dass er ein schlechter Umgang für mich wäre.

Batuhans Sicht:

Emirs blaue Augen sahen mich von weitem schon an und er rannte in meine Arme. Wie schaffte es dieser kleine Junge mich jedes Mal zum Lächeln zu bringen? Auf dem Spielplatz spielte er ein wenig und ich musste auf ihn aufpassen. Es tat weh seit zwei Wochen Dilara nicht zu sehen. Oder auch nur was von ihr zu hören. Keiner hatte etwas von ihr mitbekommen. Sofort gab ich mir selber die Schuld. Ich war mir sicher, sie wollte wegen Jenny und der Schwangerschaft nie wieder etwas von mir wissen. Und daraufhin baute ich noch einen Unfall. Es war verständlich, dass sie mich nie wieder sehen wollte. Herr Ay, der mich zum Probetraining einlud, hatte mich trotz meines Nichterscheinens angenommen. Mein Trainer meinte, dass tat er aus Mitleid, weil ich im Koma lag. Ob aus Mitleid oder nicht, ich hatte mich über diese Nachricht mehr als gefreut.

Am selben Nachmittag war es regnerisch und ich musste zurück ins Krankenhaus, um einige Papiere abzuholen. Als ich gerade das Krankenhaus verlassen wollte, sah ich Dilara einen Raum betreten. Meine Augen erweiterten sich enorm und ich sah ihr nach. Ohne wirklich nachzudenken lief ich an die Tür und versuchte mitzubekommen, was der Arzt sagte. "Das wird ihre letzte Blutabnahme zur Kontrolle sein, Frau Güven. Drücken wir Ihnen die Daumen, dass die Vermutung wegen Leukämie, nur eine Vermutung bleibt.", hörte ich eine männliche Stimme sagen. Ich traute meinen Ohren nicht und wartete aggressiv vor der Tür. Bis ungefähr 10 Minuten später, Dilara die Tür öffnete und zusammenzuckte, als sie mich sah. Ich sah in ihre überraschten Augen und eigentlich wollte ich sie anbrüllen, weshalb sie mir nichts von dem Verdacht erzählt hatte. Oder weshalb sie sich nicht gemeldet hatte. Doch in dem Moment vergaß ich alles um mich herum. Meine Wut löste sich komplett auf und ich war einfach nur glücklich, in ihre wunderschönen blauen Augen blicken zu können.

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