Kapitel 6

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In dem Moment kam es mir so vor, als würde ich sterben. Ich wollte es auch. Am liebsten würde ich in den Armen von Mustafa aufhören zu atmen, damit er sich im Nachhinein schämen würde. Doch vom Tod war keine Spur. Ich spürte Mustafas Faust im Gesicht und es tat mehr weh, als alles andere. Mustafa hatte mir früher nicht einmal ein Haar gekrümmt. Und nun war er bereit mich leiden zu sehen. Im selben Moment ließ er mich los und schrie:" Du bist so eine Schande." Mit diesen Worten schubste ich ihn von mir und rannte weinend auf mein Zimmer. Dort angekommen Schloss ich meine Tür ab und hatte vor, sie nie wieder zu öffnen. Auf meinem Zimmer lief ich hin und her. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mit voller Wut schmiss ich meine teure Tischlampe auf den Boden. Sie zersprang in tausend Teile. Die Lampe war wie eine Metapher für mein Herz, welches nun auch aus tausend Teilen bestand. Aggressiv ging ich durch meine tiefschwarzen, nassen Haare. Ich musste mich beruhigen, doch wie sollte ich das anstellen? Als würden die aus der Schule nicht reichen, ging auch zuhause mein eigener Bruder auf mich los.

Obwohl schon zehn Minuten vergingen, konnte ich nicht ansatzweise realisieren, was Mustafa getan hatte. Ich fühlte mich an jenem Tag so überfordert, ungeliebt und allein. Die Vorstellung, dass ich wenige Tage zuvor das glücklichste Mädchen in Essen war, konnte ich nicht einsehen. Langsam begab ich mich an mein Spiegel und betrachtete mich. Plötzlich fing ich an, alles an mir in Frage zu stellen. Vor wenigen Tagen war ich zufrieden mit meinem Aussehen. Doch an jenem Tag, fand ich so viele Dinge an meinem Körper, die mich einschüchterten. Ich begann mich hässlich und unwohl zu fühlen.

Nun war es 22 Uhr und ich lag noch immer in meinem Bett. Ich konnte mich kaum bewegen oder mein Gesicht verziehen, denn jede Bewegung und jeder Muskel schmerzte schlagartig. Doch ich konnte auch nicht schlafen, also zwang ich mich aufzustehen, um mir frische Luft zu schnappen. Ich zog mir eine Jacke über und lief auf mein Balkon. Dort lehnte ich mich erneut an mein Geländer. Meine Augen hatte ich wieder geschossen und wollte tief Luft holen. Doch dann nahm ich eine Stimme wahr. Es war Batuhans Stimme:" Dilara?" Sofort öffnete ich meine Augen und sah ihn am Fenster. Sein Fenster war in fast der selben Höhe wie mein Balkon. Ich konnte nicht antworten und sah ihn ohne Emotionen an. Im selben Moment hörte ich eine kindlichere Stimme. Das müsste Emir sein. Batuhan war also im Zimmer von Emir. Schon wieder hörte ich Emirs Stimme, doch Batuhan ging nicht auf ihn ein. Er sah mich einfach nur an. Sein Fenster war wenige Meter von mir entfernt. "Wer hat dich geschlagen?", fragte Batuhan sofort. Ich antwortete ihm nicht, sondern musste schlucken, um nicht zu weinen. Er merkte, dass es mir miserabel ging. Doch weiter darauf ging er auch nicht ein. Ohne ein Lächeln aufzusetzen oder sich zu verabschieden, schloss er das Fenster und ich sah, dass er Emir in seine Arme nahm. Ich wusste nicht, wie ich mich fühlen sollte. Die frische Luft hatte mir nichts gebracht. Noch immer ging es mir schrecklich.

Am nächsten Tag weckte meine Mutter mich, um mich zu fragen, ob ich bereit war zur Schule zu gehen. Gerade als ich ihr Antworten wollte, schrie sie . "Was ist mit dir passiert? Dilara, wer hat dir das angetan?", fragte sie mich aufgebracht. Ich stand sofort auf und lief vor mein Spiegel. Dort bemerkte ich mein leicht blaues Auge. Doch meinen Bruder verpetzten wollte ich nicht, also antwortete ich ihr nicht. Bis sie mich bedrängte. "DILARA!", sie schrie mich an. "Wer hat dir das angetan? Anil?" Ich schüttelte meinen Kopf. Gerade als ich antworten wollte, kam mein Bruder herein. "Ich war das.", sagte er sofort. Meine Mutter Verstand den Zusammenhang nicht und wollte Mustafa keinen Glauben schenken. "Mustafa. Das ist nicht lustig." "Ich weiß. Hast du die Videos von Dilara gesehen?" In dem Moment drehte meine Mutter komplett durch. Sie schrie ihn an und die beiden verließen mein Zimmer. Wie ich mich verhalten sollte, wusste ich nicht. Ich legte mich zurück in mein kuschliges Bett und hörte mit geschlossenen Augen meiner Mutter zu. Sie verteidigte mich.

Es war 14 Uhr geworden und ich lag noch immer in meinem Bett. Meine Mutter hatte mir Frühstück und Mittagessen hoch gebracht und wollte einkaufen gehen. Ich war alleine Zuhause und sah in meinem Zimmer fern. Den ganzen Tag hatte ein ich schlechtes Gewissen. Ich war sehr unglücklich und plötzlich klingelte die Tür. Auf einer Seite ging ich davon aus, dass es meine Mutter war. Doch schob auch extrem Panik. Es könnte auch jemand aus meiner Schule sein. Ich konnte denen alles zutrauen. Langsam begab ich mich zur Tür und öffnete diese. Doch keiner war da. Gerade als ich die Tür wieder schließen wollte, bemerkte ich einen Brief, genau vor der Tür. Er war an mich adressiert. Mit zittrigen Händen öffnete ich den Brief, schloss die Tür und lief zurück auf mein Zimmer.

"Dilara,
Ich habe den ganzen Vorfall in der Schule gesehen und kann das nicht nachvollziehen. Du wurdest auf Facebook heruntergemacht. Das ist keine Sache worüber man sich lustig macht. Das beweist nicht, was für ein Mensch du bist. Sondern was die anderen für Monster sind. Du bist ein wunderschönes Mädchen! Und ich könnte darauf schwören, wenn ich dir sage, dass alle neidisch auf dich und dein Aussehen sind. Du bist hübsch, talentiert und schlau, kannst dir alles leisten, hattest einen perfekten Freund und viele Freunde. Jetzt wollen sie dir alles wegnehmen. Ich weiß, es ist nicht einfach, wenn ich dir sage, du darfst nicht auf die Beleidigungen eingehen. Doch du musst es versuchen! Ganz ehrlich, Anil ist sehr dämlich, wenn er dich gehen lässt. Ich will einfach nur, dass du weißt, das du nicht alleine bist. Auch wenn du dich so fühlst. Ich bin auf deiner Seite und verstehe dich. Möchte aber anonym bleiben."

FragwürdigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt