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„Hallo, sorry das wir zu spät sind, ich hatte gerade noch einen kleinen Notfall. Ist aber alles geregelt", ich setzte ein Lächeln auf und versuchte es so echt wie möglich wirken zu lassen. Im inneren schämte ich mich dafür, jetzt tat ich das, wofür ich meine Familie verachtete. Joey und ich setzten uns zu den anderen. Es waren nur noch Stühle zwischen Billie und Frank frei und zwischen Mike und Adrienne. Ich bekam natürlich den Platz zwischen Billie und Frank, überschwänglich begrüßte ich die beiden. 

„Hallo Frank, hattet ihr schöne Feiertage?", ich lächelte in seine Richtung und die einer etwas jüngeren Frau mit Lila gefärbten Haaren. Frank sah von seinem Steak auf und mich verwirrt an, „Ja, Weihnachten war dieses Jahr", er überlegte, „Ziemlich überraschend", ich nickte. „Das freut mich", lächelte ich und griff nach der Salatschüssel um mir eine Portion auf meinen Teller zu schaufeln. Dabei streifte ich Joeys Blick der auf mir haftete und mich besorgt musterte. 

Ich hatte schon sehr früh gelernt mir eine Maske aufzusetzen und gute Miene zu machen. Jetzt sah ich rüber zu Billie, „Was ist das? Das sieht sehr lecker aus", ich deutete auf seinen Teller, er sah mich mehr als misstrauisch an. „Das ist Bratpaprika", „Ach ja stimmt, du bist ja Vegetarier, ist es okay wenn ich auch eine probiere, ich deutete auf einen anderen Teller wo noch ein paar von denen lag. Er nickte langsam und schob sich eine Gabel in den Mund.

Der Abend verging wie im Flug, ich lachte viel und Integrierte mich gut in die Gespräche, meine aufgesetzte Art schienen mir trotz anfänglichem Misstrauen alle abzukaufen. Alle bis auf Joey. Er wusste was heute passiert war. Die anderen fanden es zwar seltsam das ich auf einmal so offen und freundlich war, aber Gedanken machte sich augenscheinlich niemand.

Etwas später am Abend stand ich in der Küche und half Adrienne beim Abwasch. „Ist wirklich alles in Ordnung?", fragte sie vorsichtig, ich sah sie verwirrt an, „Natürlich Adrienne, was sollte denn nicht in Ordnung sein?", fragte ich immer noch mit einem Lächeln im Gesicht obwohl es durch die Frage etwas schwer wurde es zu halten. „Ach alles gut, ich hatte mich nur gefragt warum du auf einmal so aufgeschlossen bist. Aber wahrscheinlich bist du einfach aufgetaut", ich nickte, „Ja genau, ich brauche immer so meine Anlaufzeit", log ich kichernd. Und damit war das Thema für sie abgeharkt.

Als ich später im Bett lag brach jedoch alles auf mich ein und ich hatte das Gefühl das ich keine Luft mehr bekommen würde. Nach luftschnappend stolperte ich zum Fenster und öffnete es. Die kühle Nachtluft half mir meine Atmung ein wenig zu regulieren und das einengende Gefühl in meiner Brust loszuwerden. 

Früher hatte ich zur Beruhigung etwas Gras geraucht oder ein paar Tabletten Tilidin geschmissen und das ganze mit Alkohol runtergespült. Doch ich wollte nicht wieder in alte Muster verfallen, aber der Drang war sehr groß einfach mein Telefon zu nehmen, meinen damaligen Dealer anzurufen und etwas zu bestellen. Ich schloss die Augen und kauerte mich unter das Fenster, meine Finger bohrten sich in meine Oberarme um mich abzulenken. Langsam wog ich mich hin und her und es wurde besser.

Total durchgeschwitzt lockerte ich nach ein paar Minuten den Griff um meinen Arm, blieb allerdings sitzen, das alles hatte mich sehr viel Kraft gekostet.

Ich wusste nicht wie lange ich so da gesessen hatte, aber irgendwann schaffte ich es dann doch auf allen Vieren ins Bad zu kriechen und mich am Waschbecken hochzuziehen. Ich sah grausam aus. Auf meinen Oberarmen zeichneten sich Abdrücke von meinen Händen und Fingernägeln, die sich tief und die Haut gebohrt hatten und hier und da sogar etwas von der oberen Hautschicht gerissen hatten ab. Vorsichtig spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete es anschließend ab, dann ging ich auf zitternden Beinen zurück ins Bett. Noch ein Mal atmete ich tief durch und schaffte es dann sogar nach einer Weile einzuschlafen.

Nach einer sehr unruhigen Nacht wachte ich sehr gerädert auf. Ich wollte duschen doch mir fiel es sehr schwer aus dem Bett zu kommen. Doch schließlich schaffte ich es mit sehr viel Überwindung mich ins Bad zu schleppen, auszuziehen und unter die Dusche zustellen. Danach ging es mir bestimmt besser.

Wirklich der Fall war es nicht, aber ich schaffte es mir etwas frisches anzuziehen und mich zu schminken. Nach etlicher Selbstüberwindung schaffte ich es die Stufen runter ins Wohnzimmer, doch bevor ich Eintrat atmete ich tief durch und setzte ich ein Lächeln auf. Der Rest der Familie saß bereits am Tisch und frühstückte.

„Guten Morgen!", flötete ich gespielt gut gelaunt in die Runde, „Sorry, ich kam irgendwie heute morgen nicht so ganz aus dem Bett", entschuldigte ich mich direkt hinterher und setzte mich an den freien Platz neben Jake. Ich begann mir ein Brötchen zu schmieren, hatte aber eigentlich keinen Appetit. „Hast du dich geschminkt?", ich sah auf zu Billie der mich mit schief gelegten Kopf musterte, „Ich schminke mich so gut wie jeden Tag", lachte ich, „Aber mehr als sonst oder irre ich mich?", „Ja, ich hatte vorhin irgendwie Lust darauf". „Sieht gut aus", kommentierte er und ich bedankte mich bei ihm. Wenn ich mich heute nicht geschminkt hätte, würde es auffallen das es mir nicht so gut ging wie ich vorgab das es mir ging.

Nach dem Frühstück, bei dem mir Joeys Blicke nicht entgangen waren, die ich aber gekonnt ignoriert hatte, verzog ich mich in den Keller um Schlagzeug zuspielen. Ich wollte nicht mit ihm reden, eigentlich wollte ich mit niemanden darüber reden. Nicht wie ich mich fühlte nicht was ich dachte oder wie es mir mit der Situation ging. Im Keller trommelte ich mir die Seele aus dem Leib, aber wie sonst immer konnte ich meine Gefühle diesmal nicht abschütteln wie sonst.

„Ey das wird ja immer besser!", Joey lehnte im Türrahmen, ich lächelte nur gequält. „Willst du nicht langsam mal eine Pause machen? Du bist schon seit guten vier Stunden hier unten", jetzt wo er es sagte merkte ich erst wie erschöpft ich überhaupt war. Zerstreut nickte ich und folgte ihm hoch, er reichte mir ein Glas und wir setzten uns auf die Terrasse.

Unten im Keller hatte ich kein Netz und jetzt wurde mir erst die Nachricht von Chuck angezeigt.

Wann soll ich dich abholen? Schick mir mal die Adresse.

Ich schrieb ihm direkt zurück.

So schnell wie möglich. Manchester Drive 6076.

„Das war Chuck, er holt mich gleich ab.", informierte ich Joey. Er sah mich mit einer Spur Trauer an, „Willst du nicht hier bleiben?".

Hit the Road JackWo Geschichten leben. Entdecke jetzt