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„Frohe Weihnachten", Jeff lehnte im Türrahmen meines Zimmers, ich warf ihm nur einen kurzen verächtlichen Blick zu und starrte dann direkt wieder auf die Gegenüberliegende Seite meines Zimmers. „Mom sagt, du gehst nicht mehr raus. Wenn du darüber reden willst...", er ließ den Satz offen im Raum stehen. Pah! Was ein Heuchler! Er hatte sich noch nie um mich gesorgt also warum jetzt? „Verschwinde", murrte ich halb zu ihm, halb in mein Kissen. Ich wollte ihn nicht sehen oder hören, genau genommen wollte ich niemanden sehen. Er blieb. Natürlich. „Ich soll dir von Mom sagen, das du gleich runter kommen sollst, es gibt gleich Essen", unbeeindruckt sah ich ihn wieder an, „Aha", erwiderte ich nur unbeeindruckt, „Es sind alle da, sogar Peggy.", „Ich hab keinen Hunger", „Laut Mom hast du seit Tagen kaum was gegessen", ich zuckte nur mit den Schultern. „Laut Mom! Laut Mom", äffte ich ihn nach, „Ist das dein Problem?", gab ich pampig zurück, „Du hast dich sowieso nie um mein Wohl gesorgt. Warum jetzt? Schlechtes Gewissen bekommen?", meine Stimme klang süffisant und bissig, ich hatte mich zur Hälfte aufgerichtet und sah auf den rechten Arm gestützt in Richtung Tür. Jeff sah mich nur verständnislos an. „Keine Ahnung wovon du sprichst, komm jetzt einfach runter und mache keine Zicken", da war er wieder, der alte Jeff.

Mein Hass auf Jeff war von einem wehrlosen Kind zu einen Elefanten ran gewachsen, der nicht vergessen konnte. Ich würde niemals vergessen. Nicht die Schläge oder das Getrommel seiner Fäuste gegen meine Zimmertür, die ich mit aller Kraft versuchte zu zu halten. Nicht die Gemeinheiten die ich all die Jahre ertragen musste und auch nicht die Tritte oder fiesen Sprüche im vorbeigehen. Und auch nicht, das es unseren Eltern all die Zeit Egal war, was passierte, „Es ist ja dein Bruder, so schlimm kann das ja nicht sein", „Das ist normal das sich Geschwister manchmal nicht verstehen. Das wird schon" oder mein persönliches Highlight, „Dann wehre dich doch!". Das hatte ich irgendwann aufgegeben, weil ich gemerkt hatte wie sinnlos es war irgendetwas zu machen, es kam sowieso alles doppelt und dreifach zurück. Hauptsache alle dachten das wir eine glückliche Familie waren. Ich hatte das hier alles so satt, die Lügen, den Schein, meine „Familie".

Der einzige Mensch der mir all die Jahre Hoffnung gegeben hatte war der Bruder meiner Mutter, mein Onkel. Vielleicht weil er genau wie ich das schwarze Schaf der Familie war. Doch er hatte uns auch verlassen, vor ein paar Wochen.
Aber da sieht man auch wie ironisch das Leben sein kann, Fred war bei der Bundeswehr und für eine länger Zeit in Afghanistan stationiert. Er hatte all den Scheiß erlebt und überlebt nur um dann wegen Glatteis von der Straße abzukommen. Ich konnte das alles noch immer nicht begreifen. Er lag zwar noch zwei Wochen im Koma, aber starb dann wegen eines Blutgerinnsels. Seit seinem Tod hatte ich mein Zimmer nicht mehr verlassen, nur um vielleicht mal aufs Klo zu gehen, abgenommen hatte ich auch sehr stark weil ich kaum noch aß. Ich war so in meiner Trauer versunken, das ich kaum was anderes wahrnahm.

Nach ein paar Minuten raffte ich mich schließlich doch auf um mich frisch zu machen. Ich hatte seit Tagen nicht geduscht und das mein Körper noch keine Pilzkollonie gebildet hatte glänzte an ein Wunder. Das Wasser auf meiner Haut tat gut und wusch einen Teil der Trauer und Trägheit der letzten Zeit weg. Nach dem ich mich angezogen hatte lief ich die Treppe runter ins weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer, aus dem Stimmen drangen. Am Esszimmer Tisch saßen mein Vater, meine Mutter, mein Bruder mit seiner Freundin, meine jüngere Schwester, die ich genauso wenig ab konnte wie meinen Bruder. Mein Blick fiel auf Tante Peggy, die einzige die ich mochte.

„Wie könnt ihr hier sitzen und Weihnachten feiern wenn Onkel Fred gerade mal seit fünf Tagen...!", „Jaqueline, das Leben geht weiter.", unterbrach mich meine Mutter, „Setzt dich und iss mit uns, du bist ja nur noch Haut und Knochen". Zitternd vor Wut setzte ich mich dennoch auf den leeren Platz. Über den Tisch hinweg sah mich Peggy mitleidig an. Aber in ihrem Gesicht konnte ich ebenfalls Trauer erleben.

Wie konnte sie sein Tod so kalt lassen? Verständnislos starrte ich auf meinen leeren Teller und begann wieder in meine Welt ab zu tauchen. Hunger und Appetit hatte ich immer noch nicht. Jemand klatschte mir ungefragt ein paar Kartoffeln und Roskohl auf den Teller. „Iss", hörte ich die barsche Stimme meines Vaters, aber es schien, als ob er weit weg sei. Eine Träne lief meine Wange runter, verschwommen nahm ich wahr, das mein Vater auf mich einredete und meine Mutter auf ihn. Tante Peggy sagte auch irgendwas, aber ich sah nur ihre Münder, wie sie sich bewegten. Ihre wütenden Gesichtszüge. Es war wie bei einem Stummfilm. Immer mehr Tränen rannen nun über meine Wangen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und rannte aus dem Esszimmer in den Flur und durch die Haustür raus. Raus aus diesem verdammten Haus.

Die Straße war nass und ein feiner Sprühregen fiel, ich trug nur Socken, die sich nach nur wenigen Sekunden voll sogen. Doch das hielt mich nicht auf, ich lief so lange, bis ich einen kleinen Spielplatz erreichte. Meine Haare und meine Klamotten waren durchnässt und ich zitterte. Mein Gesicht war rotz verschmiert und ich kauerte mich unter das Spielgerüst in den Sand. Wie automatisch umschlossen meine Arme meine Knie ins ich begann mich hin und her zu wiegen.

Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, fischte ich mein Telefon aus der Hosentasche und wählte Chucks Nummer. Mein bester Freund. Er musste mir einfach helfe. Ich bezweifelte zwar das er ran ging, denn es war immerhin Heiligabend, aber ein Versuch war es wert und er nahm zu meinem Glück ab. Unter erneut aufkommenden Schluchzern schilderte ich ihm was passiert war. Chuck zögerte keine Sekunde und war nach zwanzig Minuten, in denen ich es bereute ohne Schuhe und ohne Jacke das aus verlassen zu haben, an dem Spielplatz.

„Das ist echt beschissen", murmelte er nach dem ich ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. Wir standen vor dem Haus von Chucks Eltern und rauchten noch eine bevor wir rein gingen. Das Nikotin beruhigte mich ein wenig und ich nahm einen weiteren tiefen Zug. „Was hast du jetzt vor?", ich sah auf meine nassen und Sand verkrusteten Socken hinab, als ob dort meine Antwort zu finden sei. Meine Füße waren schon taub vor Kälte, doch die Kälte war mir mittlerweile egal. Ich sah wieder auf, klopfte die Asche meiner Zigarette ab und sah in Chucks fragendes Gesicht, „Ehrlich gesagt weiß ich es nicht".

Hit the Road JackWo Geschichten leben. Entdecke jetzt