Kapitel 1 - Matthias

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Gefühle für jemanden haben. 

Was für eine merkwürdige Beschreibung dafür, dass man jemanden liebte. Sein Leben mit ihm teilte und ohne ihn nicht funktionierte. Gefühle für jemanden haben. Das klang viel zu ungenau und unbestimmt für so etwas wie die Liebe. Es klang viel mehr nach das, was Teenager zueinander sagen, die noch nicht wirklich wissen was es bedeutet, jemanden wirklich zu lieben. 

Und doch störten ihn diese Worte ungemein. Ich habe Gefühle für dich. Wer sagt denn noch so etwas? 

Matthias entfuhr ein Schnauben und er bemerkte, dass er den Kopf schüttelte. 

„Nicht gut?", riss ihn eine vertraute Stimme aus seinen Gedanken und allmählich klärte sich sein Verstand und er kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Er sah nach rechts und blickte in das traurige Gesicht seiner Tochter Aaliyah. Sie standen in der Küche in seiner Wohnung und verzierten gerade eine ganze Menge Cupcakes. 

„Ehm...", stammelte Matthias und spürte, wie er nervös wurde. Er sollte sich wirklich nicht so leicht ablenken lassen. 

„Doch, natürlich ist deiner gut geworden. Aber guck dir mal meinen an", sagte er und hoffte so, dass er Aaliyahs Enttäuschung wieder wettmachen konnte. Aaliyah reckte den Kopf und spähte zu den Cupcakes, die er verziert hatte. 

„Das sieht gruselig aus", sagte sie und deutete mit ihrem Finger, der von Zuckerguss ganz verschmiert war auf den Cupcake, an dem er gerade arbeitete. Matthias stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete ihn skeptisch. Eigentlich war ihm das Gesicht aus Zuckerfarbe ganz gut gelungen, aber dennoch wollte er Aaliyah den Spaß lassen. 

„Hast recht. Besser, wir essen ihn direkt auf", sagte er, schnappte sich den Cupcake und biss hinein. Wie erwartet lachte Aaliyah und nahm ihm den angebissenen Cupcake aus der Hand und schob ihn sich in den Mund. Matthias lachte, als sich ihre Backen füllten und sie den Mund zum Kauen kaum noch zu bekam. Sie kicherte und schlang den Bissen herunter und wieder einmal erkannte er sein eigenes Gesicht in dem ihren. 

Sie sah ihm wirklich ungewöhnlich ähnlich, das runde Gesicht, die Grübchen und die braunen Augen. Nur ihr Haar war lockig, während seines glatt war. Aaliyah beugte sich über die Cupcakes, die sie auf der Arbeitsfläche verteilt hatten und betrachtete sie. 

„Ich finde, der da sieht auch ziemlich hässlich aus. Den können wir Jonas auf keinen Fall zeigen", sagte sie und deutete auf einen weiteren kleinen Kuchen. Matthias lachte. 

„Ach, den sollen wir auch essen, meinst du?", fragte er und sah, wie sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. 

„Na gut. Den einen noch, aber dann haben wir genug genascht. Sonst sind keine mehr übrig", sagte er, reichte Aaliyah den Cupcake und schob sie an den Schultern in Richtung Sofa. Sie sprang freudestrahlend darauf und ließ sich seufzend nieder, als hätte sie einen wirklich harten Arbeitstag hinter sich. 

Matthias löste den Blick von ihr und richtete seine Aufmerksamkeit auf ihr Schlachtfeld der letzten zwei Stunden. Sie hatten eine ganze Menge gebacken und auch wenn noch nicht alle Cupcakes verziert waren, beschloss er, dass es genug waren und er den Rest einfach für morgen für sich selbst aufheben würde. Er platzierte sie in der bereitgestellten Kuchenform, verschloss sie und stellte sie auf den Esstisch, damit Jonas sie nachher mitnehmen könnte, wenn er sich auf den Weg machte. 

Jonas. Augenblicklich wurde er wieder grüblerisch und wieder einmal dachte er an diesen einen Satz, diese eine Nachricht. Ich habe Gefühle für dich. Er wusste nicht, ob Jonas bemerkt hatte, dass auch er diese Nachricht auf seinem Handy gelesen hatte, aber wenn, dann hatte er sich nichts anmerken lassen. Allerdings hatte auch er bisher so getan, als hätte sein Freund nicht diese Nachricht mit einem eindeutigen Liebesgeständnis erhalten. Von seinem Ex. Den er womöglich heute Abend sehen würde. 

Matthias spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte und er wieder in eine Traumwelt abdriftete. Oder besser gesagt: In eine Alptraumwelt, denn Jonas würde nachher, wenn er von der Arbeit kam, zu seinem Kumpel nach Frankreich fahren, um seinen Geburtstag zu feiern. Dafür hatten Aaliyah und er die Cupcakes gebacken, damit Jonas nicht noch mehr Stress hatte, denn im Moment war er auf der Arbeit sehr eingespannt. 

„Können wir noch einen Film gucken?", fragte Aaliyah vom Sofa und eilig riss er sich wieder zusammen. Er brauchte sich darüber keine Gedanken mehr machen. Jonas war mit ihm zusammen und das auch schon seit zehn Jahren. Na ja, neun Jahren, zehn Monaten und sechs Tagen, um genau zu sein. Nach einer so langen Zeit konnte doch eine Nachricht von einem Ex nichts mehr anrichten, oder? 

Matthias schüttelte den Kopf, wie um seine eigene Unsicherheit zu vertreiben und ging die wenigen Schritte zum Sofa, wo er sich neben Aaliyah niederließ. Sie streckte fragend die Hand nach der Fernbedienung aus und sah ihn so flehend an, dass er lachen musste. 

„Mach schon an", forderte er und machte eine Kopfbewegung zum Fernseher. Aaliyah gehorchte und öffnete zielstrebig den Streamingdienst. Sie suchte eine ganze Weile nach etwas, das sie sehen und wollte und atmete beinahe erschrocken ein, als sie einen Film fand, den sie anscheinend sehen wollte. 

„Papa", sagte sie und deutete mit dem Finger auf die Mattscheibe. Matthias sah sich das Cover genauer an und erkannte eine Gruppe von Kindern, die aussahen, als würden sie jede Menge Abenteuer erleben. Gleichzeitig sah er das kleine grüne Viereck unten in der Ecke. 

„Nein", sagte er nur und bedeutete Aaliyah mit einer Handbewegung, dass sie einen anderen Film auswählen sollte. 

„Ich will aber den Film gucken", quengelte sie, was Matthias innerlich die Augen verdrehen ließ. 

„Nein, der Film ist ab zwölf", sagte er, denn er wollte auf keinen Fall Ärger mit Aaliyahs Mutter bekommen, wenn er sie Filme sehen ließ, die ihr Angst machten. 

„Aber...", setzte sie an, doch Matthias brachte sie mit einem strengen Blick zum Verstummen. 

„Du bist neun, nicht zwölf", sagte er entschieden. Aaliyah zog eine Schnute und verschränkte die Arme vor der Brust, wobei die Fernbedienung auf den Boden fiel. 

„Gut, dann eben keinen Film", sagte er, hob die Fernbedienung auf und schaltete den Fernseher aus. Aaliyah stöhnte und schlug mit der kleinen Faust in ein Kissen. 

„Hör auf damit", forderte er, spürte aber, wie die gewohnte Nervosität in ihm aufstieg, wenn er befürchtete, überfordert zu sein. Sicher, Aaliyah war seine Tochter und sie war eigentlich ein gut erzogenes Kind, aber noch immer fühlte er sich heillos überfordert. Er wollte alles richtig machen und das gelang ihm meist nicht wirklich. Er sah noch einmal zu ihr und sah, wie sie schmollte und dabei Muster mit dem Finger auf das Kissen malte. 

Er zog sein Handy aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf. Es war schon kurz nach sechs. Jonas war mal wieder spät dran, denn er hatte heute Morgen schon um Viertel vor sechs das Haus verlassen. 

„Wann kommt Papi?", fragte Aaliyah quengelig, was Matthias einen schuldbewussten Blick entlockte. Nicht nur er selbst vermisste Jonas in den letzten Wochen, auch Aaliyah tat es. Immerhin waren Matthias und er schon vor ihrer Geburt ein Paar geworden und sie kannte sie beide nur zusammen. 

„Das wüsste ich auch gern", murmelte er leise und seufzte. 

Slice of Life - L'AffaireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt