Kapitel 15 - Matthias

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Nachdem er Aaliyah bei seinem Vater abgeladen hatte und zurück ins Krankenhaus gefahren war, fühlte Matthias sich noch elender, als ohnehin schon. Ihm war klar, dass er hier für Esra sein musste, aber gleichzeitig war er es, der jemanden zum Anlehnen brauchte. Jonas. Er brauchte Jonas, der allerdings in Frankreich war. 

Noch einmal warf er einen Blick auf sein Handy, allerdings hatte Jonas sich noch nicht auf die Nachricht gemeldet, die er auf seiner Mailbox hinterlassen hatte. Er ließ sich mit einem Seufzen auf einen der Metallstühle nieder, die im Flur des Krankenhauses aufgestellt worden waren und schloss die Augen. Sein Kopf sank auf seine Brust und am liebsten wäre er hier und jetzt eingeschlafen. 

Gleichzeitig kreisten seine Gedanken wie verrückt. Würde Esra den Eingriff gut verkraften? Könnte sie vielleicht den Vater des Kindes anrufen, damit er ihn ablöste? Matthias schluckte. Unterbewusst wollte er sich wieder einmal aus der Affäre ziehen, auch wenn Esra deutlich gemacht hatte, dass sie ihn hier bei sich haben wollte. Matthias bemerkte, wie er angefangen hatte, auf seiner Lippe herumzukauen. Er wusste, dass Esra dazu neigte, sich in ihn zu verlieben, sobald er ihr fünf Sekunden Aufmerksamkeit schenkte. Es war nicht böse gemeint, aber sie schien eine nicht nachvollziehbare Schwäche für ihn zu haben, obwohl sie beide wussten, dass es mit ihnen einfach nicht funktionierte. Selbst wenn es Jonas nicht gäbe, wäre er nicht mehr mit ihr zusammen. 

Mit einem Stöhnen fuhr er sich durch die Haare und stützte den Kopf auf den Händen ab. Seine Ellbogen bohrten sich in seine Knie und für einen Moment genoss er den Schmerz. 

Auf einmal hörte er ein Geräusch, das ihn den Kopf heben ließ. Es wurde lauter und genau in diesem Moment wurde Esra in ihrem Bett den Flur entlang geschoben. Die Rollen des Bettes quietschten rhythmisch, was ihn wahnsinnig machte. 

Als Esra an ihm vorbeigeschoben wurde, sprang er auf und sah zu ihr. Allerdings waren ihre Augen geschlossen, nur ihre Lippe zitterte ein wenig, eindeutig ein Zeichen, dass sie wach war. Matthias folgte dem weiß gekleideten Mann, der ihr Bett zurück in ihr Zimmer schob und blieb unschlüssig stehen, bis er wieder verschwunden war. Kaum dass die Tür zufiel, stieß Esra die Luft aus, als hätte sie sie angehalten. 

„Hey", sagte er sanft, ging zu ihr und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Sofort streckte sie die Hand nach ihm aus und er zögerte nicht, sie zu nehmen. 

„Alles okay?", fragte er, was sie den Kopf schütteln ließ. Matthias biss sich auf die Lippe. Natürlich war sie nicht in Ordnung. 

„Was kann ich tun?", fragte er hilflos, woraufhin sie ihm den Blick zuwandte. Ihre braunen Augen wirkten ausdruckslos. 

„Bitte bleib einfach hier, bis ich eingeschlafen bin. Und kümmere dich um Aaliyah. Morgen werde ich ihn anrufen und...", plapperte sie monoton vor sich hin, als würde sie gar nicht zu ihm sprechen sondern zu sich selbst. 

„Soll ich... soll ich Duygu Bescheid geben?", fragte er, denn sicherlich würde sie ihr ein wenig besser zur Seite stehen können als er selbst. Esra schüttelte den Kopf. 

„Nein, das mache ich schon", sagte sie zu seiner Erleichterung, denn eigentlich wollte er nicht wirklich mit seiner Tochter darüber sprechen, was mit Esra passiert war. 

„Okay. Ruh dich aus", sagte er und strich mit dem Daumen sanft über ihren Handrücken. Esra atmete tief ein, drehte sich auf die Seite, sodass sie sich halb um ihn herumwickelte und umklammerte seine Hand wie ein Kuscheltier, das sie sich an die Brust presste. 

„Schlaf", hauchte er, strich ihr zärtlich über die dichten Locken und hoffte, dass sie schnell einschlief.

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Möglichst leise hatte Matthias sich aus dem Krankenhaus verdrückt. Glücklicherweise war Esra schnell eingeschlafen und war auch nicht wieder aufgewacht, als er sich von ihr gelöst hatte. 

Als er sich in sein Auto setzte, fühlte er sich vollkommen erschöpft. Seine Hände legten sich um das Lenkrad und umklammerten es so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sein Kopf war vollkommen leer und randvoll zugleich. Die Dunkelheit, die inzwischen draußen herrschte, umfing ihn und nahm ihn ein. Wie hatte dieser Tag nur so schnell vorbei sein können? Er war noch nicht wirklich bereit, diesen Tag ziehen zu lassen, denn er war gefüllt von Kummer und Schmerz. 

Noch einmal atmete er tief durch und kramte sein Handy aus der Hosentasche. Noch immer kein Lebenszeichen von Jonas. Sicherlich war er gerade in diesem Moment in dieser Klitsche von Club, in dem er auch schon einmal gewesen war. Kopfschüttelnd vertrieb er den Gedanken an Jonas, wie er ausgelassen tanzte und Spaß hatte, denn unweigerlich schlich sich Markus ins Bild. Schnell tippte er eine Nachricht an Jonas. 

„Ich liebe dich. Komm heil zurück, ich brauche dich", schrieb er, schickte die Nachricht ab und warf sein Handy auf den Beifahrersitz. Anschließend startete er den Motor und fuhr in Richtung nach Hause.

Eine halbe Stunde später betrat Matthias seine Wohnung. Die herrschende Stille wurde nur von dem leisen Summen des Kühlschranks unterbrochen. Mühsam streifte er die Schuhe von den Füßen und ging ins Bad. 

Sein Blick fiel auf Esras blutverschmierte Hose in seinem Waschbecken und augenblicklich glaubte er, den metallischen Geruch zu riechen, ja förmlich zu schmecken. Sein Magen drehte sich um und eilig wandte er den Kopf ab. Das war wirklich eklig, aber er musste ihre Klamotten ein wenig auswaschen, wenn er den Geruch loswerden wollte. 

Er trat näher ans Waschbecken und drehte das Wasser auf. Sofort bildete sich ein rosafarbener kleiner Wasserstau, denn die Hose blockierte den Abfluss. Er hob sie an und ließ die blutige Suppe abfließen, abschließend griff er nach ein wenig Gallseife und rieb sie auf den verschmutzten Stoff. 

Diese Hose war wirklich kein großer Verlust, er hatte nie begriffen, warum Esra sie so oft trug. Der flattrige Stoff war blau-weiß-schwarz gestreift und betonte unvorteilhaft ihre Rundungen. Matthias rieb den Stoff einander und wusch so das Gröbste raus, bevor er alles in die Waschmaschine beförderte und sie einschaltete. 

Erschöpft verließ er das Bad und ging geradewegs ins Schlafzimmer. Er war vollkommen erschöpft und musste sich dringend ausruhen. Er pellte sich aus seinen Klamotten, krabbelte ins Bett und rollte sich auf der Seite zusammen. Wie von allein wanderte seine Hand auf Jonas Seite des Bettes, aber als er ihn nicht fand, fiel ihm wieder ein, dass er ja in Frankreich war. 

Es war so ungewohnt, dass er nicht hier war und ein dumpfer, sehnsüchtiger Schmerz breitete sich in ihm aus. Jonas hätte sicherlich bessere Worte gefunden als er selbst, um Esra ein gutes Gefühl zu geben. 

Sein Blick wanderte zu seiner Hose, die er achtlos auf den Boden hatte fallen lassen und in deren Tasche sich sein Handy befand. Mühsam kämpfte er sich noch einmal hoch und holte es. Natürlich hatte Jonas sich noch immer nicht gemeldet, was ihn allmählich wütend machte. Selbst wenn er mit seinen Freunden unterwegs war, konnte er doch ab und zu auf sein Handy schauen. Normalerweise war er immer der besorgte Typ, der vor allem für die Kinder immer erreichbar sein wollte. 

Matthias klickte den Nachrichtenverlauf mit ihm an und scrollte ein wenig nach oben, bis er ein rotes, pochendes Herz-Emoji fand, das Jonas ihm vor einigen Tagen geschickt hatte. Einen Moment lang betrachtete er es und auch wenn es nur ein blödes Emoji war, beruhigte es ihn. Jonas liebte ihn und er liebte Jonas. Wer war schon Markus? Selbst wenn er Jonas diese dämlichen Nachrichten schickte, eigentlich hatte er keine Angst, dass Jonas ihre Beziehung für ihn aufgeben würde. Immerhin waren sie doch eine kleine Familie, auch wenn Aaliyah und Jonas nicht blutsverwandt waren. 

Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen und er schloss die Augen. Die Vorstellung, dass er wirklich mit Jonas bis an sein Lebensende zusammen sein würde, durchflutete ihn mit Glück. Früher hatte er immer gelacht, wenn Leute von der Liebe des Lebens redeten, vielleicht insgeheim auch, weil er sich innerlich nach so jemandem sehnte. Aber nun wusste er, dass es so etwas gab, die wahre Liebe. Sie war nicht immer romantisch und man sah die Welt nicht durch eine rosarote Brille. Sie war echt, hielt ihn am Leben und machte ihn lebendig. Jonas und er liebten sich nicht nur, sie waren eine Einheit, eine Familie. Ein Leben ohne Jonas konnte er sich nicht mehr vorstellen und er wollte es auch nicht. Und er wusste, dass Jonas genau so empfand. 

Matthias entfuhr ein genüssliches Seufzen und auch wenn Jonas nicht neben ihm lag, spürte er seine Anwesenheit ganz deutlich. Morgen. Morgen würde er wieder hier sein und er könnte ihm sein Herz wegen dieser ganzen Sache mit Esra ausschütten. 

Slice of Life - L'AffaireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt