Kapitel 29 - Matthias

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Matthias schaffte es nur schwer, die Tränen zurückzuhalten, als er eine seiner Betreuten, ein gerade einmal achtzehnjähriges Mädchen, das nichts und niemanden auf der Welt hatte, ziehen ließ. Er konnte sie und auch einige andere nicht allein lassen. Sicher, einige hatten kein Problem damit, einfach in den nächsten Ort zu ziehen und dort versteckt im Wald ihr Zelt aufzuschlagen, aber es gab eben auch solche wie dieses Mädchen, für die er eine Bezugsperson geworden war. Es hatte Wochen gedauert, bis sie sich ihm gegenüber geöffnet und seine Hilfe angenommen hatte und nun ließ er sie unfreiwillig fallen. Das konnte doch nicht richtig sein! 

Frustriert und wütend zugleich machte er sich zurück auf den Weg zu seinem Schreibtisch. Er spürte, wie seine Hände zitterten und er hoffte, dass er irgendwie den Tag durchstand. Auf einmal kam ihm ein Gedanke. Er sprang so schnell auf, dass sein Stuhl zurückfuhr und gegen Franziskas Bürotür knallte, aber es war ihm vollkommen egal. Er rannte sie schnell er konnte dem Mädchen hinterher. 

„Hey, Michelle!", rief er, als sie gerade dabei war, das Gebäude zu verlassen. Erschrocken drehte Michelle sich um und sah ihn ängstlich an, als befürchtete sie die nächste Hiobsbotschaft. Ein wenig außer Atem kam er bei ihr an und setzte ein Lächeln auf. 

„Kann ich dir vielleicht meine Nummer geben? Damit du mich anrufen kannst, wenn etwas nicht in Ordnung ist", sagte er und meinte es vollkommen ernst. Dieses Mädchen und noch einige andere brauchten ihn, zumindest bis sie Anschluss in einer der anderen Standorte gefunden hatte. Schüchtern nickte Michelle und holte ihr Handy aus ihrem Rucksack. Zögernd sah sie ihn an. 

„Ist das nicht verboten, dass ich deine private Nummer habe?", fragte sie und auch wenn sie eigentlich recht hatte, schüttelte Matthias den Kopf. 

„Ich bin sowieso gekündigt. Aber... ich meine... wir sind doch gerade auf so einem guten Weg. Ich... ich kann dich jetzt nicht hängen lassen", sagte er und spürte tief in sich, dass es das Richtige war. Auch wenn er selbst nicht oft von sich überzeugt war, wusste er, dass er in seinem Job gut war und dass er wichtig war. 

„Okay", sagte Michelle langsam, bevor sie ihm ihr Handy reichte. Eilig speicherte Matthias seine Nummer ein. 

„Ich meine es ernst. Ruf mich an, egal wann", sagte er eindringlich, lächelte aber gleichzeitig. Michelle erwiderte es und nickte, dann machte sie sich davon. Einen Moment lang sah er ihr noch nach, bevor er sich abwandte und zurück zu seinem Arbeitsplatz ging. Sicherlich würden nicht alles es so entspannt wie Michelle aufnehmen, das wusste er. Mit Sicherheit gab es die ein oder anderen verzweifelten Tränen, vielleicht auch wütende Beleidigungen, weil sich die Menschen, die auf ihre Hilfe angewiesen waren, vor den Kopf gestoßen fühlten. 

Er zog sich seinen Stuhl wieder heran und setzte sich mit einem Seufzen. Neben ihm saß Diana, Louisa war gerade mit einem Betreuten in den Aufenthaltsraum gegangen. Er spürte den Blick seiner Kollegin auf sich. 

„Und was ist mit mir?", fragte sie, fuhr auf ihrem Stuhl näher an ihn heran und stieß ihm mit dem Finger unsanft in die Seite. Matthias zuckte zusammen, musste aber lachen. 

„Was soll mit dir sein? Du hast ja eine Arbeit und lässt deine Betreuten nicht hängen", brummte er, konnte aber ein Grinsen nur schwer unterdrücken. Komischerweise war er nicht wütend auf Diana, dass sie nicht gekündigt worden war, aber sie konnte ja auch am wenigsten dafür. 

„Ich meine, ob ich auch deine Nummer bekomme, du Blödmann!", lachte sie und setzte zu einem erneuten Angriff mit ihrem Finger an, dem er jedoch eilig auswich. Tatsächlich wurde ihm für einen Moment lang die Kehle eng, denn ihm wurde bewusst, dass er Diana vermissen würde. Immerhin kannten sie sich seit zwölf Jahren und sie hatten sich immer gut verstanden. 

Slice of Life - L'AffaireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt