Kapitel 72: Das Ende

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"Nein", brüllte ich. "Nein!" Tränen schossen mir in die Augen, während ich neben Lee Ann nieder sank.
Ich hatte nie gewollt, dass sie starb. Ich wollte doch nur... Keine Ahnung was ich wollte, jedenfalls nicht das.
Mein Schrei ließ den Kampf ersterben. Alle blickten zu mir. Lee Anns Männer blieben noch kurz unschlüssig stehen, dann liefen sie davon.
Einfach so. Rannten einfach weg und ließen ihre sterbende Anführerin liegen.
Feiglinge.
Ich legte die Hände an Lee Anns Wangen, hielt sie fest, umschlang sie mit meinen Armen. Warmes Blut, überall. Es klebte an meinen Händen, an meinen Haaren, in meinem Gesicht, auf meiner Kleidung.
Luke ließ sich neben mich sinken, er strich mir sanft die über die Haare, mit der anderen fuhr er über Lee Anns geschlossene Augenlider.
Ich weiß nicht, wie lange wir so da saßen. Lee Anns Atemzüge wurden immer flacher, bis irgendwann, eine scheinbare Ewigkeit später, der letzte Atemzug unbemerkt ihre blutigen Lippen verließ.
Als ich meinen Kopf auf ihren Brustkorb sinken ließ, schlug ihr Herz nicht mehr.
Ihre Haut war noch warm, überzogen von dunklem Blut, mit dem sich meine Tränen vermischten. Ich fand nicht die Kraft, mich wieder zu erheben.
Sehr lange war es unnatürlich still. Dann erhob sich Luke neben mir und ließ mich allein mit der Toten zurück. Ich war ihm dankbar dafür.
Jess und Julian traten neben mich. Sie murmelten irgendetwas unverständliches zu Lee Ann. Ich glaube, auch sie hatten nicht gewollt, dass sie starb.
Dann blieb ich wieder allein.
Ich denke, ich wäre nie wieder aufgestanden, wäre nicht meine Mutter gekommen. Sie setzte sich neben mich und eine Weile saßen wir nur so da.
"Du solltest reinkommen", sagte meine Mutter schließlich.
Ich schüttelte den Kopf. "Ich hab sie umgebracht", flüsterte ich. Ich war eine Mörderin. Wie konnte sie nur hier neben mir sitzen ohne sich zu ekeln? Wie konnte sie mich nicht verabscheuen? Ich tat es.
Mama zog mich sanft zu sich, nahm mich in die Arme und wiegte mich. "Nein Clare. Du hast das einzig richtige getan. Du hast die Menschen, die du liebst, verteidigt." Sie strich mir die Haare aus dem Gesicht. "Vielleicht ist es besser so für sie.
Vielleicht geht ihr Traum jetzt endlich in Erfüllung. Bei den Träumern glaubt man, dass die Seelen der Verstorbenen aus deren Körper schweben. Die Toten können nun durch die Welt fliegen und die Geister der Lebenden betrachten. Sie werden zu ewigen Träumern, die nicht mehr in ihre Körper zurück kehren können.
Ich weiß nicht, ob das stimmt.
Keiner weiß das. Aber falls doch, dann hat Lee Ann endlich ihr Ziel erreicht. Sie ist ein Träumer geworden."
Der Gedanke war schön. Er gefiel mir.
Ganz kurz meinte ich, eine fremde Präsens streife meinen Geist und für einen Moment glaubte ich, Lee Anns Gegenwart zu spüren.
So schnell, wie das Gefühl gekommen war, verschwand es auch wieder. Ich weiß nicht, ob ich es mir nur eingebildet hatte, aber es fühlte sich an wie ein Versprechen. Und es gab mir kraft.
"Komm", ermutigte mich meine Mum. "Gehen wir rein. Die anderen warten schon auf dich. Und vielleicht solltest du dir das ganze Blut abwaschen."

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