Kapitel 59: Ruhe

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Wir wanderten durch die Gänge zu unserem Zimmer. Luke hatte sein zerrissenes T-Shirt in der Hand, ich mein Schuhe. Irgendwann hatte ich sie ausgezogen. Ich lief viel lieber barfuß und hier war der Boden durch die Fußbodenheizung angenehm warm. Mit der anderen Hand hielten wir uns aneinander fest. Unsere Finger waren ineinander verhakt, seine Nägel drückten leicht in meinen Handrücken, aber nur so leicht, dass es sich gut anfühlte.

Ohne uns abgesprochen zu haben, hatten wir das selbe Ziel.

Der Boden wurde kälter und rauer, als wir auf den Turm traten. Kleine spitze Steinchen bohrten sich zwischen meine Zehen, aber es störte mich nicht.

Wir stellten uns an das Geländer und stützten uns mit den Ellenbogen auf.

Genau hier hatten wir gestanden an unserem ersten Tag hier. Der Tag, an dem wir beschlossen hatten, hier zu bleiben.

Wir standen hier, ich spürte den Wind, wie er durch meine Haare wehte und meine Kleidung an mich drückte und sah zu, wie unten die Welt zur Ruhe kam. Die Vögel hörten auf zu singen, das Meer wurde dunkel und sah in seiner Schwärze fast schon etwas unheimlich aus. Nur wir standen hier, über all dem, und betrachteten das Spiel der Natur von oben.

Mit der kommenden Kälte zog ich meine Schuhe wieder an.

Eine gefühlte Ewigkeit später durchbrach schließlich Luke die Stille, die sich auf uns gesenkt hatte.

"Wie wäre es, wenn wir uns morgen frei nehmen? Einfach mal einen Tag Zeit nur für uns zwei?" Seine blauen Augen heftigen sich auf mich. "Ich fände das sehr schön", bekannte er leise.

Ich erwiederte seinen Blick. Eigentlich wollte ich weiter üben, eigentlich sollte ich mich mit Lee Ann treffen, eigentlich...

Aller Widerstand schmolz dahin. "Ja", sagte ich, "das wäre sehr schön."

Wir starrten noch etwas länger in die Finsternis, genossen sie Ruhe, die uns umgab. Sein Arm berührte leicht meinen. Mit dem Daumen strich er über ihn und spürte die Gänsehaut, die sich gebildet hatte. Es war kalt geworden. "Gehen wir rein", beschloss er, doch bevor wir die Türe ins Haus erreichten, blieb er schon wieder stehen.

"Noch nicht heute." Es klang wie eine Frage. Er überließ es mir.

Ich wusste, dass er nicht vom reingehen sprach. Ich war mir sicher, zu wissen, was er meinte.
Diese Nacht.

Die Entscheidung fiel mir schwer. Ich sehnte mich so danach, endlich ihn richtig zu spüren, voll zu erfahren, dass er ganz mir und ich ganz ihm gehörte. Aber wir hatten gerade so viel im Kopf und so viel zu tun, wir würden diese Erfahrung nicht mit der Würde, die ihr Zustand, in uns aufnehmen.

"Noch nicht heute", stimmte ich zu.

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