Kapitel 47: Ziele

268 21 2
                                    

"Wo ist Luke?", platzte ich heraus, ohne auf ihre Frage einzugehen.

"Er schläft noch. Keine Sorge, ihm fehlt nichts." Sie deutete auf das Sofa. "Setz dich doch!" Kaum saß ich, eilte sie zur Tür, öffnete sie einen Spalt breit und befahl den davor stehenden Wächtern: "Bringt uns doch bitte mal was zu Essen und einen Kaffee." An mich gewandt fragte sie: "Du magst doch Kaffee?"

Ich nickte stumm. Das ganze war mehr als nur seltsam. Wer war diese Lee Ann und warum war sie so freundlich?

Mit einem strahlenden Lächeln setzte sie sich neben mich. "Ich nehme an, Luke ist dein Traumverwandter, oder? Wenn nicht, wäre das sehr ärgerlich."

Ich sah sie verständnislos an. "Mein was?"

"Haben deine Eltern dich nicht darüber informiert? Aber sie haben dir schon ihre Ziele erklärt und so?"

"Was für Ziele?" Was wollte sie nur von mir? Wollte sie mich über meine Eltern ausspionieren oder was? "Hör mal, mag ja sein, dass du gerne nette Gespräche mit mir führen würdest und jedes andere Mal gerne, aber momentan hab ich wirklich überhaupt keinen Nerv dazu, den zufällig wurde ich gerade entführt und mein Freund auch und ich würde ihn gerne mitnehmen und einfach nach Hause gehen, wir können uns dann ja mal in einer Eisdiele treffen, wie wäre das? Momentan habe ich sowieso keinen blassen Schimmer, wovon du sprichst."

Lee Ann sah mich aus großen Augen an. "Deine Eltern haben dich noch nicht aufgeklärt über die Ziele der Träumer?"

"Nein", fauchte ich genervt, "meine Eltern haben in letzter Zeit noch nicht sehr viel gesprochen, wir wurden ja leider von deinen Kidnappern unterbrochen."

Sie seufzte. "Ja, ich habe das alles", sie machte eine umfassende Bewegung mit der Hand, "von meinem Vater geerbt. Er ist vor eineinhalb Jahren gestorben und hat mir all das hinterlassen mit dem Auftrag, weiter für seine Ziele zu kämpfen. Aber meine Methoden entsprechen nicht seinen. Mir wäre lieber, er hätte mir ein paar Diplomaten und Pedagogen vererbt statt einen Haufen gewalttätiger Idioten. Bisher hatte ich leider noch keine Gelegenheit, sie auszutauschen.

Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass du in ein Gespräch vertieft warst, als wir dich geholt haben."

Das stimmte. Meine Eltern hätten schon die letzten Tage mit mir sprechen und mir alles erklären können, aber das hatten sie nicht getan. Jetzt fiel mir auch auf, dass nur Luke mich gesucht hatte. Meine Eltern waren nicht gekommen, um nach mir zu suchen, nachdem ich mitten in der Nacht aus dem Schiff abgehauen war. Warum waren sie nicht da gewesen?

Die Tür öffnete sich und einer der Typen brachte ein Tablett mit einer Schüssel Müsli, einem Kuchen, zwei Tellern und zwei Tassen Kaffee herein. Vorsichtig stellte er alles auf dem Tisch ab und verschwand dann wieder.

Auch wenn er nur kurz hier gewesen war, hatte ich gemerkt, welche Ehrerbietung er Lee Ann entgegen brachte. Obwohl sie viel kleiner und schwächer war als er.

"Nun ja, wie auch immer", meinte Lee Ann, während sie mir das Müsli reichte und sich ihre Tasse Kaffee nahm, "dass deine Eltern dich nicht ausreichend informiert haben, ist ein bedauernswertes Versäumnis, aber ich bin nicht in der Lage, dies alles mit dir aufzuholen." Sie trank einen Schluck und schien ihre nächsten Worte genau zu überdenken. "Ich kann dich nur über die allgemeinen Angelegenheiten der Träumer informieren.

Früher gab es deutlich mehr Träumer als heute. Alle berühmten Herrscher, Heerfüherer und Rebellen waren Träumer. Der Schlüssel zum Erfolg war es, andere zu manipulieren und wo kann man das besser als in den Träumen anderer? Doch mit der Industrialisierung geriet die Kunst des Träumens in Vergessenheit. Karriere vor Familie, Familie vor Träumen. Das ist die neue Philosophie des Lebens. Die Zahl der Träumer ist in den letzten Jahren deutlich gesunken. Du musst wissen: das Gen des Träumens kann nur familiär vererbt werden, aber nicht jedes Kind eines Träumers hat automatisch dieses Gen. Das erste Kind bekommt die Veranlagung immer, das zweite hat nur noch eine 50%-Chance, das dritte nur eine 25%-Chance, und so weiter. Da immer weniger Kinder geboren werden, gibt es auch immer weniger Kinder, die die Veranlagung zum Träumen haben. Und selbst die Kinder, die bewusst träumen können, lernen nur noch selten, diese Gabe zu kontrollieren. Sie lernen nur noch das Nötigste, das wars dann aber auch schon.

Ich habe dich holen lassen, denn ich möchte, das DU lernst, diese Gabe zu nutzen. Ich möchte, dass du lernst, es zu KONTROLLIEREN. Du solltest STARK sein, unmanipulierbar und selbstsicher. So wie die Träumer es einst waren!"

TraummörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt